Jorge Dispari & Marita ‘La Turca’ - Unterricht als eine Hommage

von Ute Neumaier, Buenos Aires, veröffentlicht in Tangodanza Nr. 48, Oktober 2011  

In dem Arbeiterviertel Boedo in Buenos Aires liegt die Tangoescuela de Villa Urquiza von Jorge Dispari und Marita ‘La Turca’ – Urgesteine des Tango, Lehrer, Milongueros und Eltern der Tänzerinnen Geraldin Paludi und Samanta Dispari. Halb Schule, halb Wohnung,  heimelig und chaotisch hat ihre Academia einen ganz eigenen, argentinischen Charme. Jorge sitzt am Computer und freut sich: “Heute ist ein großartiger Tag, ich habe mich bisher mit niemandem gestritten.“ Täglich diskutiert er in Facebook und wirbt für „seinen“ Tango, den er glühend verteidigt: den Tango von einst, ohne den sein und Maritas Leben und das ihrer drei Kinder nicht denkbar ist. Dass er dabei ein bisschen ruppig und dogmatisch wirkt, nimmt er in Kauf; das sei er dem Tango schuldig, denn dessen Essenz dürfe niemals verloren gehen.

Wie überzeugend er das vertritt, erlebe ich in seinem Workshop über Musikalität: Vier Stunden lang gehen wir zu einem Tango und langweilen uns nicht eine einzige Minute. Der Hitzkopf Jorge ist ein inspirierender Lehrer, der uns in die Geschichte und die Traditionen des Tango entführt. Dass er dabei vielleicht auch ein bisschen idealisiert, kann man ihm kaum übel nehmen, zu deutlich spürt man seine Leidenschaft für diesen Tanz und seine Bewunderung für die großen Milongueros von einst.

Euer Unterricht ist eine Hommage an die großen Milongueros von einst. Woher kommt das?

Jorge: In die Milongueros habe ich mich mit 17 bei einer Milonga verliebt, es war Liebe auf den ersten Blick. Ich sehe noch immer ihren entrückten, glücklichen Gesichtsausdruck vor mir. Heute siehst du das in den Milongas auch, aber oft kommt es mir so gespielt vor. Nach dem Motto: Schau doch, was ich fühle. Oft vermisse ich das Herz, die Leidenschaft, die Hingabe und die Unbedingtheit der Alten, die im Tanz lebten, weinten, lachten, litten und starben.

Marita: Heute gibt es zu viel Pose, zu wenig Echtes.

Jorge:  Aber es gibt noch einen Grund: Als 1967 die letzte Bastion des Tango, der Club Buenos Aires, ihre Tore schloss, ging es immer mehr bergab. Der Tango wurde zwar nicht verboten, aber die Militärs machten ihm das Leben schwer. Oft wurde der Ausnahmezustand verhängt und nach 22 Uhr durfte man nicht in Begleitung von mehr als einer Person auf der Straße sein. Wer es dennoch tat, wurde festgenommen und die Nachforschungen dauerten mindestens 72 Stunden, so dass man also erst nach ein paar Tagen wieder auf freien Fuß war. Die Menschen hatten Angst und wollten deartiges lieber nicht riskieren. Sie sagten sich: „Dann kümmern wir uns nicht eben mehr um den Tango.“ Die Milongueros aber blieben ihm treu und hielten ihn am Leben.

Wer von diesen Milongueros hat euch am meisten beeinflusst?

Marita:  Unser wichtigster Lehrer und größtes Vorbild war von 1979 bis 2010 ‚El Turco’ José¹.

Jorge: Er war ein unglaublicher Tänzer, ein Meister des Subtilen, immer elegant und mit einem immensen Tangowissen. Er tanzte die Frauenrolle wie kaum ein anderer und wurde daher oft spaßeshalber ‚Josefa’ genannt. Er konnte verzieren, dass es dir die Sprache verschlug. Alles, was Geraldin als Frau kann, hat sie von ihm gelernt.

Marita: Ein Jahr vor seinem Tod hat er noch unterrichtet, obwohl er schon eine Laufhilfe brauchte. Er stand unten an der hohen Treppe, sammelte sich und murmelte: „Da muss ich hinauf, der Tango wartet auf mich.“ Dann quälte er sich die Stufen hoch, und im Unterricht zeigte er mit großer Willenskraft die Übungen an der Stange. Er wollte weder Hilfe noch Mitleid, er wollte tanzen, bis zur letzten Minute, und nichts und niemand konnte ihn davon abhalten. Nicht all zu lange vor seinem Tode wollte er mit uns in die Milonga gehen und mit Samanta tanzen. Wir konnten es ihm nicht abschlagen, hatten aber Angst, er könnte fallen.

Jorge: Er sagte nur: „Wenn ich falle, dann lasst es geschehen. Ich muss tanzen.“

(Marita zeigt bewegt auf die Urne im Regal)

Marita: Seine Frau wollte ihn einäschern lassen und die Asche in Villa Urquiza² in den Wind streuen. Doch sie erfüllte unseren Wunsch und gab uns die Urne, damit unser langjähriger Lehrer immer bei uns sein kann.

Jorge: Auch Carlos Alberto Estévez ‚Petroleo’³ hat mich beeindruckt, obwohl er nicht mein Lehrer war. Man hört oft, sein Spitzname käme daher, dass er so schnell drehen konnte. Aber es hatte wohl eher damit zu tun, dass er in früher Jugend immer etwas ‚getankt’ hatte. In den letzten Jahren, bevor er endgültig aufhören musste, machten seine Beine nicht mehr mit. Er brauchte im Sin Rumbo fast eine halbe Stunde, um mit kleinen Trippelschrittchen an seinen Tisch zu gelangen. Dann saß er den ganzen Abend da, schaute den Tänzern zu und kurz vor dem Aufbruch fragte er mit schwacher Stimme: „Marita, tanzt du mit mir?“ Dann richtete er sich mühevoll auf und ging zur Tanzfläche. Dort sammelte er sich, ging in Tanzhaltung, es kam Leben in den alten Mann und er begann zu tanzen. Das werde ich niemals vergessen.

Jorge, tanzt du so wie einer der Milongueros?

Jorge: In meinen ersten Jahren nannte man mich ‚den jungen Portalea’4. Das gefiel mir überhaupt nicht und ich begann, meinen eigenen Stil zu entwickeln. Natürlich tanze ich auch heute noch Figuren von Portalea oder von ‚El Turco’ José, aber ich tue es auf meine Weise. Das Wunderbare an diesen großen Alten war auch, dass jeder im Tanz seine Persönlichkeit, seine Figuren, seinen Stil, seine Art zu gehen hatte. Heute wird zu viel kopiert, anstatt kreativ zu sein. Einer hält die Hand wie ein Tablett und schon machen es alle nach.

In euren Schilderungen wirken diese Milongueros wie Götter. Waren sie das?

Marita: Nein, Götter waren sie keine, im Gegenteil. Lebemänner, Nachtvögel, viele waren richtige Weiberhelden. Gute Tänzer hatten einfach großen Erfolg bei den Frauen, sie hatten die Wahl. Ich erinnere mich noch an einen, der in jeder Milonga mit einer anderen Frau zu sehen war. Ich fragte ihn mal, welches denn nun seine legitime Frau sei. Aber die war zu Hause, mit der ging er nicht tanzen.

Und große Milongueras? Gab es die?

Marita: Ja, natürlich, und wir hatten das große Glück, diese Milongueras noch zu erleben. Da waren Ofelia Rosito und Nélida Fernando ‚Nelly’, die als Tänzerinnen heute immer noch bei Jung und Alt begehrt sind, und andere wie Lilia Filipini, Elvira Vargas ‚Pocha’ und Margarita, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausgehen.

Jorge: Marita gehört auch zu ihnen, sie ist 1952 geboren, aber als Tänzerin hat sie eine Geschichte von fast 50 Jahren. Sie tanzt traumhaft und es gibt keinen Milonguero, dem sie nicht folgen kann.

Wie seht ihr eure Rolle als Lehrer?

Marita: Wir möchten unseren Schülern die Liebe und den Respekt für den Tango weitergeben und zeigen, dass er viel mehr ist als nur ein Tanz: Ausdruck einer Kultur, einer Lebensform, Musik und Poesie.

Jorge: Ich sehe uns als ein Verbindungsglied zwischen der Vergangenheit und meinen Schülern, die die legendären Tänzer nicht mehr erleben konnten. Die waren zwar große Milongueros, aber schlechte Lehrer in dem Sinn, dass sie den Tango nicht mit Worten erklären konnten. Und so sehe ich es als unsere Aufgabe, das weiterzugeben, wofür sie keine Worte, sondern nur Gesten hatten und dafür zu sorgen, dass sie nicht vergessen werden.

Marita: Zu unseren Schülern gehörten Andres Amarilla, Corina de la Rosa, Daniel Nacucchio und Cristina Sosa, Enrique und Judita, Fabián Peralta, Javier Rodriguez, die Missé-Brüder und natürlich unsere Töchter.

Jorge, bist du eher Lehrer, Milonguero oder Tänzer?

Jorge: Ich tanze und unterrichte mit großer Leidenschaft. Ob ich Milonguero bin, dazu kann ich nichts sagen, denn das ist eine Auszeichnung, die einem nur ein anderer geben kann. Wenn man mich fragt, ob ich Tänzer bin, sage ich Nein, denn ich habe noch nie auf einer Bühne eine Choreografie getanzt, auch wenn ich früher für andere Tänzer choreografiert habe. Wenn ich tanze, dann nur das, was ich fühle. Ob es gut oder schlecht ist, weiß ich nicht, aber es kommt aus meinem Herzen.

Wann begann diese Liebe zum Tango?

Jorge: Ich wurde direkt in ihn hineingeboren. Meine Eltern tanzten, meine Mutter singt heute mit 80 Jahren immer noch und meine Oma ahmte mit ihrer Stimme eine Geige nach. Du kannst dir vorstellen, dass in einer solchen Familie Tango bei allen Familienfesten präsent war. Mit vier Jahren konnte ich schon die wichtigsten Tango-Orchester unterscheiden: Di Sarli, Pugliese, D’Arienzo, D’Agostino, Tanturi und Caló. Mein Vater legte ein Stück auf und ich musste das Orchester und den Tango erraten, noch bevor der Sänger einsetzte. Und das schaffte ich! So lernte ich die Musik auf spielerische Weise kennen und lieben.

Marita, du hast doch eine wunderbare Geschichte. Erzähl sie doch!

(Marita windet sich und gibt dann nach)

Marita: Auch ich komme aus einer Tangofamilie: Mein Papa war Milonguero, der Onkel von Gerardo Portalea, und brachte mir mit sieben das Tanzen bei. Als ich acht Jahre alt war, nahmen sie mich auf eine Tangoveranstaltung mit und meldeten meinen Vater und mich einfach bei einem Wettbewerb an. Wir tanzten, gewannen und das war die erste Tangoauszeichnung meines Lebens. Der erste Preis waren zwei Hühnchen! Der Zweite ein Dutzend Empanadas! (lacht)

Jorge: Ach, Marita du erzählst das überhaupt nicht richtig und lässt die Hälfte einfach weg! Sie war die letzte Tanzpartnerin von ‚Petroleo’. Als seine Tanzpartnerin starb, bat er Marita trotz des Altersunterschieds seine Partnerin zu werden, denn kaum eine Frau könne mit so viel Herz tanzen wie sie und sie sei die Einzige, die ihm folgen könne. Man hatte ihm damals Carmencita Calderon5 vorgeschlagen, aber er wollte lieber eine junge Partnerin, er sei ja alt genug für beide zusammen, war sein Argument.

Marita: Ich tanzte damals mit jemand anderem einen anderen Stil, dennoch sagte ich ja. Er war schon sehr alt und trat nicht mehr so viel auf, aber seine letzten Auftritte tanzte er mit mir. Dann wurde ich die Partnerin von Pupi Castello, lange vor Graciela Gonzalez.

Im Unterricht spürt man eure große Vertrautheit, und ihr neckt euch oft wie ein verliebtes Paar. Wo habt ihr euch kennen gelernt?

Jorge: Wir lernten uns 1982 im Sin Rumbo kennen, seit 27 Jahren verbringen wir Tag und Nacht miteinander. Sie ist nach dem Tango meine zweite große Liebe, auch auf den ersten Blick. Es gibt immer noch dieses gewisse Etwas, manchmal schreien wir uns fürchterlich an. Aber es muss nur jemand ein Wort gegen den anderen sagen, und sofort sind wir zur Stelle.

Marita: Jorge war mein Traumprinz und das ist er noch. Ich war ja schon mit Geraldins und Cecilias Vater verheiratet, aber wir hatten uns früh getrennt.

Jorge: Vielleicht kann man mir vorwerfen, ich sei ein Träumer. Oft sehe ich Männer alleine in der Milonga, ohne ihre Partnerin. Das gibt es bei uns nicht. Gerade haben wir unterrichtet, jetzt geben wir ein Interview, dann essen wir zusammen, dann tanzen wir miteinander. Und das soll auch so bleiben.

So wurde also aus dem Tangopaar dann eine ganze Tangofamilie?

Jorge: Ja, wir haben drei Töchter, Geraldin und Samanta sind als Tänzerinnen bekannt und wir haben sie auf diesem Weg immer sehr unterstützt. Maritas Herzenswunsch ist auch, dass einer unserer Enkel diesen Weg geht. Aber kaum einer weiß, dass Cecilia, unsere Älteste, viel früher tanzte als ihre beiden Schwestern.

Marita: Aber sie wollte nie Profitänzerin werden, obwohl sie den Tango vielleicht mehr als alle liebt. Bei ihrer Geburt kaufte mein Vater ein kleines Radio, stellte einen Tangosender ein und legte es ihr in die Wiege. Sobald die Musik aufhörte, fing das sonst ruhige Baby an zu schreien. Heute ist sie 34 und hört immer noch die ganze Nacht Tango und kann ohne ihn nicht einschlafen. Unsere drei Töchter tanzen, aber jede erlebt und interpretiert die Musik auf ihre ganz persönliche Weise.

Wovon habt ihr damals den Lebensunterhalt für diese Tangofamilie bestritten?

Marita: Ich habe meine Kinder erzogen, habe Empanadas gemacht und verkauft und in einer Schule für behinderte Kinder gekocht und ihnen später auch den Tango näher gebracht.

Jorge: Ich war Maler, später arbeitete ich für ein Umzugsunternehmen  und war dann sechs Nächte pro Woche DJ. Der Tango wurde damals immer populärer, es gab viele Milongas und zu wenig DJs. Eigentlich nur vier: Felix Picherna, Nestor, der nur die ‚Die Nummer 1’ genannt wurde, Oscar Hector und Toto Cirilo. Ich hatte eine gute musikalische Grundlage aus meiner Kindheit, den Rest brachte mir Cirilo bei. Vor allem, dass es nicht so sehr darum geht, viel Musik zu haben, sondern viel Leidenschaft für die Musik zu empfinden. Ohne Gefühl und Begeisterung gibt es keinen Tango, sei es beim Musikauflegen, Spielen, Tanzen oder Unterrichten.

Wie war es damals, DJ zu sein, und welche Musik wurde gespielt?

Jorge: Es gab noch keine CDs, die Musik kam von Schallplatten oder Kassetten. Ich habe mit Kassetten Musik gemacht, weil die leichter zu tragen waren. Ich habe mit einem Kugelschreiber vor- und zurückgespult, kannte alles auswendig und wusste, wo welches Stück begann. Im Sin Rumbo hatte ich nur einen Kassettenrekorder! In der Galeria del Tango waren es dann schon vier und ein Kopfhörer: zwei zum Suchen des Themas, einen für die Cortina und einen für die Tanda zum Tanzen.

Es gab sehr viel weniger Musik als heute, vieles war nicht mehr vorhanden und die guten Sachen waren bei ein paar wenigen Sammlern. Du darfst nicht vergessen, dass die großen Kollektionen von den Japanern gekauft wurden, die alle Originale überarbeitet und so unglaublich gute CDs auf den Markt gebracht haben. Das muss man ihnen lassen. Dieses Phänomen ist darauf zurückzuführen, dass der Tango Weltkulturerbe wurde. Ich weiß nicht, ob die Tangomusik heute noch uns gehört oder den Japanern, denn sie haben die ganze musikalische Information mitgenommen. Aber letztendlich haben wir alle davon profitiert.

Wie wurde aus dem DJ ein Tänzer? Fiel es dir leicht?

Jorge: Nein, ich begann erst zu tanzen und dann Musik zu machen. Aber einfach war es dennoch nie. Tango ist eine verfluchte Sache: Nichts ist leicht, eine Pause zu machen, zu gehen, zu drehen, und man lernt niemals aus und mir ging es nicht anders. Aber ich liebe den Tango und das hielt mich bei der Stange.

Marita: Höchstens Tänzern, die ihn praktisch mit der Muttermilch aufgesogen haben, fällt es leicht, wie Geraldin, Samanta, Javier Rodriguez oder den Missé-Kindern. Als Erwachsener hat man viele Blockaden.

Jorge: Mein erster Lehrer war Gerardo Portalea, später folgten viele große Milongueros wie Villarrazzo, Lampazo, Oliveto, Milonguita und ‚El Chino’ Perico. Dann kam ‚El Turco’ José und blieb bis zum Schluss unser Lehrer. Da mein Vater in Buenos Aires ein berühmter Herrenschneider war und alle Milongueros einkleidete, wurde ich schnell als Schüler akzeptiert.

Auch Cacho Mantegaza half mir auf meinem Weg; ich begegnete ihm, als ich nach sieben Jahren mit dem Tanzen aufhören wollte. Ich verstand nicht, worum es ging und konnte die Dinge nicht umsetzen. Cacho tanzte ganz anders als ‚El Turco’, er mischte das Sanfte mit dem Ungestümen und dabei entstand eine außerordentliche Mischung. Er verstand es, mich wieder neu für den Tango zu begeistern.

Und wann wurdet ihr Tangolehrer?

Jorge: Meine erste Schülerin vor 23 Jahren war Geraldin, als ich 30 war und bereits seit zwölf Jahren tanzte. Es kostete  mich Überwindung und war mir fast ein bisschen peinlich gegenüber den erfahrenen Tänzern, die ich bewunderte.

Geraldine war sechs und spielte im Hof der Academia in einem Stühlchen mit Rädern, auf dem sie während des Unterrichts mit einem Affenzahn zwischen den Schülern hindurchzischte. Sie wollte, dass ich ihr tanzen beibringe, aber ich sagte zu ihr, erst wenn sie zeigen würde, dass es sie wirklich interessiert. Daraufhin blieb sie fünf Stunden lang mucksmäuschenstill im Unterricht sitzen.

Und seitdem unterrichtet ihr zusammen den gleichen Stil?

Jorge: Ja, seitdem unterrichten wir Tango de Salon und seine Variante, den Estilo Villa Urquiza. Heute wird viel durcheinander geworfen, manche sagen, sie unterrichten Villa Urquiza und lehren Ocho Cortado. Das gehört aber zum ehemaligen Tango Petitero, dem heutigen Tango Milonguero!

Marita: Früher wusste man anhand der Figuren eines Milongueros, aus welchem Viertel er stammte, denn jedes hatte seinen Stil. Einer tanzte einen Boleo aus Paternal, die aus Villa Devoto machten die Lapices anders. Das ist leider verloren gegangen.

Jorge: Wir reisen um die ganze Welt und predigen, dass das Wichtigste im Tango das Gehen ist. Manchmal fragt man mich, ob ich mit ‚so was’ Geld verdiene. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, das zu unterrichten, woran man glaubt. Wir unterrichten keine Figuren, sondern Gehen, Pausen und Cadencia. Auch die Umarmung ist wichtig, denn an ihr erkennt man, ob das Paar im gleichen Moment die Füße aufsetzt oder nicht. Musikalität ist unser Anliegen, um die Schüler für unterschiedliche Tangos zu sensibilisieren, damit sie die Pausen, Akzente, den Rhythmus und die Melodie eines Tangos wahrnehmen können und nicht jeden Tango gleich tanzen.

Wovon ich nichts halte ist dieses ganze neumodische Zeug wie Reikitango, Biomechanik der Bewegung, Sensodynamik oder Zentango. An so was glaube ich nicht. Tango ist Gehen. Aber das soll nicht heißen, dass das einfach wäre. Um richtig Gehen zu lernen, braucht man Jahre.

Marita: Schade ist nur, dass man heute in den überfüllten Milongas im Zentrum kaum mehr gehen kann und dass den Schülern nicht mehr beigebracht wird, wie man genügend Abstand zu dem Tanzpaar davor hält.

Nehmt ihr selbst noch Unterricht?

Jorge: Ich würde selbst gerne weiterlernen, aber seit es ‚El Turco’ Jose nicht mehr gibt, habe ich keinen Lehrer mehr. Ich sagte zu unseren Schülern Adrián und Amanda Costa: „Lernt, lernt, lernt“. Dann kann ich im Alter euer Schüler werden.

Marita: Im vergangenen Jahr waren wir neun Monate unterwegs. Kurz davor war ‚El Turco’ Jose gestorben. So richtig bewusst wurde es uns erst im Flugzeug. Wir fragten uns: Wer wird nun unsere Fehler korrigieren, die wir uns in dieser langen Zeit angewöhnt haben?

Habt ihr von Anfang an gerne miteinander getanzt?

Jorge: Ich hatte großes Glück, weil Milongueras wie Marita mit mir tanzten. Ich war natürlich begeistert, aber ich glaube, ich trat ihnen ziemlich auf den Füßen rum!

Marita: Oh Gott, ja! Ich darf nicht daran denken, wie viele Schuhe er mir ruiniert hat! Es war eine Katastrophe. Aber ich war ja verliebt und deshalb merkte ich es nicht so sehr, durch die Liebe tat es weniger weh.

Jorge: Ich wog damals auch nur 48 Kilo und nicht wie jetzt mehr als das Doppelte.

Und heute?

Marita: (strahlt) Es ist immer noch wunderbar! Nur tritt er mir nicht mehr auf die Füße.

Jorge: Es ist sogar noch schöner als früher. Tango ist wie Wein, er wird mit den Jahren immer besser und nicht schlechter.

Gibt es etwas am Tango, das euch stört?

Marita: Nein, am Tango wird mich niemals etwas stören. Aber die Menschen in der Milonga bin ich schon oft leid.

Jorge: Die Tangowelt ist nicht einfach, es gibt viel Ungerechtigkeit, mehr Schein als Sein und zu viel Marketing.

Aber das rote Tuch ist für mich Tango Nuevo. Diese Leute behaupten, sie hätten etwas Neues erfunden, aber sie haben einfach Bewegungen und Figuren aus den Vierzigern und Fünfzigern aufgegriffen, die ausrangiert worden waren, weil man sie unästhetisch und ordinär empfand, wie Colgadas und Volcadas.

Marita: Auch musikalisch erlauben sie sich so manche Geschmacklosigkeiten. Wie kann man denn zu argentinischer Folklore wie Zamba oder zu Schlagermusik Tango tanzen! Tango ist Tango.

Jorge: Am Schlimmsten ist aber ihre Rücksichtslosigkeit. Hast du in der Milonga noch nie einen Tritt abgekriegt? Mit Vertretern des Milonguerostils kann man zusammenstoßen, aber sie verpassen einem keinen Tritt und zerreißen keine Kleider mit hohen Boleos. Kürzlich wollte ich einen Seitschritt machen und hatte das Bein eines Tänzers zwischen meinen. Das hat mit Tango nichts mehr zu tun!

Was wünscht ihr euch für den Tango von heute?

Marita: Mehr Respekt, Milongas wie früher, in denen viele Menschen harmonisch miteinander tanzen können und aufeinander Rücksicht nehmen. Dass jeder wieder die ungeschriebenen Regeln kennt und weiß, wie er sich auf einer Tanzfläche zu bewegen hat.

Jorge: Marita, man kann die Uhr nicht zurückstellen, das Gestern ist vorbei. Ich wünsche mir mehr musikalische Sensibilität. Schüler sollten nicht einfach alles tanzen, sondern nur das, was ihnen gefällt. Manchmal wird ja sogar die Cortina getanzt, aus Angst den Platz auf der Tanzfläche zu verlieren!

Jorge, manchmal macht mir deine Unbeugsamkeit fast ein bisschen Angst.

Jorge: Ja, ich weiß, dass ich so bin. Manchmal bin ich es selbst leid, mich als der Batman des Tango aufzuführen. Aber ich kann nicht anders, ich kann es einfach nicht ertragen, wenn der Tango nicht respektiert wird.

Außerdem habe ich es so bei meinen Lehrern gesehen: Sie haben dir ins Gesicht gesagt, wenn du Mist gemacht hast und dich die ganze Zeit getestet. In die Milonga haben sie dich erst gelassen, wenn du in ihren Augen reif dafür warst. Und das ist man erst, wenn man sich auf einer Tanzfläche bewegen kann, und das kann Jahre dauern. Vielleicht laufe ich Gefahr, Schüler zu verlieren, weil ich zu streng bin. Aber die, die bleiben, aus denen wird was. Die haben Durchhaltevermögen, und das braucht man im Tango.

 

¹ José ‚El Turco’ Brahemcha (1931-2010), dem die Mutter im Alter von 16 Jahren empfahl, Tango tanzen zu lernen, damit er Mädchen kennen lernt. Zusammen mit Petroleo und Luis Lemos ‚Milonguita’ einer der Begründer und maßgeblich prägender Vertreter des Villa Urquiza Stils, der Eleganz und sanftes, fließendes Gehen harmonisch mit der Musik verband. Zitat: „Tango tanzen bedeutet nicht, eine Figur an die andere zu reihen, sondern es ist das, was zwischen Figur und Figur geschieht.“

² Villa Urquiza Stil: Eine Variante des Tango de Salon; ein für seine Eleganz und Virtuosität bekannter Stil mit vielen Enrosques und Lapices, der sich in den Vierzigern entwickelte und nach dem gleichnamigen Stadtteil im Norden von Buenos benannt wurde, in dem er entstand.

³ Carlos Alberto Esteves ‚Petroleo’ (1912-1995), legendärer Milonguero aus Villa Devoto, konnte ab 1988 aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr tanzen. Er ‚erfand’ die Drehung, die Drehung mit Enrosques, Boleos u.v.m. und veränderte den Tango grundlegend. Zitat: „Die Leute glauben, man geht zu einem Lehrer, der bringt einem etwas bei und dann kommt man tanzend zurück. Ich kann einem Schüler die Bewegung beibringen, aber das Gefühl muss er selber lernen. Der Tango ist ein Tanz, den man erfinden muss.“

Gerardo Portalea (1928-2007), legendärer Salontänzer, Milonguero und Vertreter des Villa Urquiza Stils, der für seinen  getragenen, eleganten  Tanzstil mit vielen Pausen berühmt ist. Zitat: „Ein Tango muss vier Elemente haben: Persönlichkeit, Eleganz, Musikalität und eine Figur, mit der man sich von allen unterscheidet.“

Carmencita Calderon (1905-2005), begann im Alter von 13 Jahren Tango zu tanzen, wurde 1933 Partnerin des legendären ‚El Cachafaz’ im ersten Tango-Tonfilm, sie trat im Alter von 100 Jahren in der Milonga La Baldosa mit Jorge Dispari öffentlich auf. Zitat: „Der Tango kommt aus den Slums, nicht vom Parkett. Wenn man das nicht mehr sieht oder spürt, dann ist er tot.“

E-Mail: jorgeylaturca@hotmail.com