Serie: Frauen im Tango - der Schritt aus dem Schatten. Maria Nieves - die Tangotänzerin des Jahrhunderts

Serie von Ute Neumaier, Buenos Aires, veröffentlicht in Tangodanza Nr. 56, September 2013

Frauen im Tango – der Schritt aus dem Schatten

Zum Tango gehörten schon immer zwei. Doch wie erleben Frauen von berühmten Tanzpaaren ihren Part? Und was geschieht, wenn sie plötzlich alleine da stehen? Unsere neue Serie geht diesen Fragen auf den Grund.

Als der Tango Ende des 19. Jahrhunderts am Rio de la Plata entstand, spielte die Frau darin – ähnlich wie in der argentinischen Gesellschaft – eine untergeordnete Rolle. Eine Einwanderungswelle brachte vorwiegend Männer ins Land, und im Tango herrschte Frauenmangel. Die Dame wurde bis 1938 bei Tanzauftritten nicht einmal namentlich erwähnt; die Kunst des Mannes stand im Vordergrund, die Partnerin war lediglich Beiwerk. Trennte sich ein Tanzpaar, glaubten die Tänzerinnen oft, das sei das Aus für sie.

Viel Zeit ist seither vergangen, und die Situation hat sich stark gewandelt. Zum Tanzen bedarf es nach wie vor zwei, aber es wird nicht mehr ausschließlich die Virtuosität des Mannes wahrgenommen; die Tänzerin spielt eine immer wichtigere Rolle. Die Emanzipation der Frau machte auch vor dem Tango nicht halt und hat zusammen mit einem deutlichen Frauenüberschuss dazu geführt, dass das weibliche Geschlecht die Tangowelt erobert hat: Frauen tanzen die Männerrolle, unterrichten Frauen – und Männer. Sie gehen auf Tournee, gründen Tanzschulen und organisieren Festivals.

Nach der Trennung von einem Tanzpartner endet ihre Karriere nicht mehr. So wie bei den Tangueras aus unserer neuen Serie. Jede Geschichte dieser Frauen ist anders; doch alle finden nach der Trennung ihren eigenen Weg und machen sich als eigenständige Künstlerin einen Namen. Ute Neumaier stellt die Frauen und deren Leben mit dem Tango vor und nach der Trennung von ihren berühmten Tanzpartnern vor.

1 Quelle: Gespräche mit den Milongueros Toto Farraldo (89) und Margarita  Guille (79)

Buenos Aires, Maria Nieves gibt eins ihrer seltenen Interviews¹. Sie erzählt, warum Männer nicht wie Frauen tanzen dürfen, warum es so schwierig war, mit Juan Carlos Copes zu proben und wie sie den Tango mit ihm in einer Zeit salonfähig machte, in der er fast ein Unwort war. Sie plaudert übers Tanzen auf einem Tisch, über unerschwingliche Rückflugtickets und ihre größten Glücksmomente. Doch zwei Fragen will sie partout nicht beantworten.

Maria Nieves, 79 Jahre alt, voller Energie und Leben, strahlende Augen, ein warmes Lachen. Eine tiefe, raue Stimme, kurz geschnittenes rotes Haar – seit jeher ihr Markenzeichen – und endlos lange Beine. Nicht umsonst nannte man sie früher ‘die Beine des Tango’. Sie tritt nur noch selten in der Öffentlichkeit auf. Dabei genießt sie es sichtlich, wie jetzt in der Reihe „Tengo una pregunta par vos”² im Mittelpunkt zu stehen. Die Bühne war und ist eben ihr Element. Maria Nieves und Juan Carlos Copes sind das Tango-Tanzpaar des 20. Jahrhunderts. In den 80er-Jahren lösen sie mit der Show Tango Argentino Begeisterungsstürme aus. „Man sprach immer davon, wie sehr wir uns lieben müssen, um so miteinander tanzen zu können“, sagt Nieves heute. „Ja, es war Liebe, aber ab einem bestimmten Punkt auch Hass. Denn der Tango enthält beides, Liebe, aber auch Hass.“

Dennoch ist Copes heute für sie jemand ganz Besonderes. Auf die Frage, warum sie nach der Trennung weiter mit ihm tanzte, antwortet sie: „Einen Tänzer wie ihn wird es nie wieder geben. Er ist für mich immer noch die Nummer eins. Doch alles, was zwischen uns war, ist vorbei und geht keinen etwas an.“ Doch wer über Nieves’ Leben spricht, kann Copes nicht ausklammern. Schließlich haben sie fast 50 Jahre zusammen getanzt. Und dann waren da noch Freundschaft, Liebesbeziehung, Ehe und schließlich Scheidung.

Der erste Tanzpartner – ein Besen

Juan Carlos Copes begegnet sie in der Milonga, in die sie ihre Schwester, die Milonguera ‘La Ñata’, schon seit ihrem zehnten Lebensjahr mitnimmt. Aber tanzen darf sie noch nicht, weshalb sie meist recht schnell gelangweilt einschläft. Mit zwölf Jahren beginnt Maria jedoch verstohlen, die Jungs zu beobachten. Und mit 14 sieht sie Copes, als er mit ‘La Ñata’ tanzt. Doch die meint, er sähe zwar umwerfend gut aus, tanze aber steif wie ein Stock und solle es erst mal lernen.

Maria Nieves selbst hat inzwischen das Tanzen längst gelernt. Heimlich, durchs Zuschauen und das Üben mit ihrem ersten Tanzpartner, einem Besen. Danach lernt sie weiter auf den Milongas, denn Academias gibt es noch nicht. Sie tanzt mit allen, egal, ob guter oder schlechter Tänzer. „Jeder hatte seinen eigenen Stil und mit jedem tanzte ich zu einem bestimmten Orchester. Lehrer zum Nachahmen gab es nicht, und ein guter Tänzer musste etwas Unverwechselbares haben: seine eigenen Schritte“, sagt Nieves und fügt bedauernd hinzu: “Viele Tänzer auf den Milongas heute gleichen einander wie Klone.“ Doch das ist nicht der Grund, warum sie nicht mehr gerne auf die Milongas geht. „Mich hat der Viejazo³ gepackt”, erklärt sie. “Ich habe über 60 Jahre getanzt, dann darf ich doch auch mal tangomüde sein.“ Das war früher aber ganz anders.

Als der Tango der Zeitvertreib war, den sich auch die Leute mit kleinem Geldbeutel leisten können, ist Nieves nicht aufzuhalten und geht jeden Samstag und Sonntag bei Wind und Wetter tanzen. Die Milonga ist für die Tochter von spanischen Einwanderern aus dem Conventillo4 eine Flucht aus einer Welt, in der ein hungriger Magen keine großen Träume zulässt. Denn als ihr Vater mit 45 Jahren stirbt, lebt sie mit ihren vier Geschwistern und ihrer Mutter in einem einzigen Zimmer, geht in der 6. Klasse von der Schule ab und arbeitet in La Boca als Dienstmädchen.

Ihr Leben steht Kopf

Nieves ist 15, als Copes sie auffordert. Tanzen hat er inzwischen gelernt und ist der Schwarm aller Mädchen. Nachdem er ein paar Monate lang versucht hat, sich Nieves zu nähern, führt er die beiden Schwestern aus. ‘La Ñata’ redet ein ernstes Wort mit ihm und ermahnt ihn, mit Maria nicht wie mit anderen zu spielen. Copes gibt ihr sein Versprechen und sagt zu Nieves: “Nun sind wir ein Paar“ – und stellt von da an ihr Leben gründlich auf den Kopf.

Denn der ehrgeizige Copes will den Tango in die Welt tragen und sich keine Blöße geben, wenn er am Wochenende, wie es von Milongueros erwartet wird, mit neuen Figuren glänzt. Hat er einen Schritt im Kopf, heißt es nachts im Bus für Nieves: aussteigen und üben. „Stell das Bein so, mach mal dies oder das“, fordert Copes sie auf, und dann tanzen sie mitten auf der Straße, ohne Musik. Nieves aber will, wenn sie in ihrem einzigen Kleid mit ‘La Ñata’ ausgeht, eigentlich nur so tanzen, wie sie es fühlt, Spaß haben und mit Menschen zusammen sein. „Eine Karriere als Tänzerin und Reisen in die ganze Welt waren nie mein Ziel“, sagt sie, „aber ich habe einen Verrückten getroffen und bin ihm gefolgt.“

Die erste Bühnenerfahrung

In Buenos Aires, der damaligen Kulturmetropole, finden zu dieser Zeit Woche für Woche Tanzwettbewerbe statt. Nieves ist 16 und Copes 19; bei den Wettbewerben sind sie meist Publikumslieblinge, kommen aber über den zweiten Platz nicht hinaus. „Ohne die richtige politische Gesinnung hatten wir es im peronistischen Argentinien schwer“, erzählt Nieves später in einem Interview, „und viele Tanzwettbewerbe waren eine abgekartete Sache5“.

Dennoch gewinnen sie 1951 aufgrund der Publikumsentscheidung den ersten Wettbewerb im Luna Park6 und haben ein paar Jahre später mit dem Orchester von Francisco Canaro ihr Debüt am Theater. Es ist Nieves erste bezahlte Arbeit als Tänzerin; dennoch reicht ihr Einkommen kaum zum Leben. Copes, der Visionär, kreiert ein Konzept für den Tango, eine Show mit Choreografie und Handlung, die er auf die Bühne bringen will – in den 50er-Jahren etwas vollkommen Neues7.  „Man hat in Argentinien niemals auf die Füße von Copes-Nieves gesetzt”, erinnert sie sich, „bis uns Carlos Petit 1955 ans Teatro Nacional holte.“ Sie tanzen in der ersten Tangoshow: Nieves, fast ohne Bühnenerfahrung, schämt sich, „wir wussten ja nicht mal, wie man sich verbeugt“, sagt sie.

New York – Der Kampf ums Überleben geht weiter

In Argentinien gehen mit dem Ende der Regierungszeit von Juan Domingo Perón und der Übernahme der Militärs die Goldenen Jahre des Tango Mitte der 50er Jahre zu Ende. Buenos Aires kehrt dem Tango den Rücken zu und der Tanz zieht sich in die Vororte zurück.

Nieves und Copes reisen 1956 zum ersten Mal nach New York, auch dort leben sie  von der Hand in den Mund. In ihrem Hotel treffen sie andere Argentinier, die als Kellner oder Schuhputzer genauso ums Überleben kämpfen wie sie selbst. Sie helfen sich gegenseitig. Dennoch nimmt der Existenzkampf und New York Nieves die Luft zum Atmen, und sie vermisst ihre Mutter. Ihre Tourneen dauern in dieser Zeit zwei bis drei Jahre, denn Geld für ein Rückflug-Ticket hat sie keins. Nieves und Copes tanzen vor, wann immer sich die Chance bietet. Doch im Ausland kennt man nur Rodolfo Valentino, und der atemberaubend schnelle Tango des jungen Paars ruft zunächst nur Stirnrunzeln hervor. Ob sie unter so schweren Bedingungen nicht daran gedacht habe, etwas anderes zu machen? „Nein“, sagt Nieves kopfschüttelnd, „was hätte ich denn tun sollen? Mein Geld reichte ja nicht mal für eine Busfahrt.“

Nach Argentinien zurückzukehren ist keine Option, denn dort haben die schwierigen Jahrzehnte des Tango begonnen. Musik aus dem Ausland, die Beatles, Boogie und Rock ‘n’ Roll verdrängen den Tango, und Milonga-Organisatoren versuchen, die Milongueros aus ihren Veranstaltungen zu vertreiben. Tänze ohne Umarmung sind der letzte Schrei, und Musik aus Argentinien interessiert keinen mehr.

Milonga auf dem Tisch

Im Ausland machen sich die beiden ganz allmählich einen Namen. Als Animateure eröffnen sie die Feste reicher Leute. In Las Vegas tanzen sie eine Milonga auf einem 1,4 m² großen Tisch. Copes macht dabei einen Sprung, fast wie ein klassischer Tänzer, und probt bis zum Umfallen. „Ich mochte und wollte das nicht“, erzählt Nieves, „mich haben andere Tänze nie interessiert. Aber ohne die Tischnummer engagierte man uns nicht.“  Immer häufiger spricht man von Copes-Nieves und ihrem markanten und eleganten Tango. 1961 verwirklichen sie Copes’ Traum, den Tango auf internationale Bühnen zu bringen und debütieren 1962 am Broadway in der Show New Faces.

Copes entwickelt sich in diesen Jahren zum Latin Lover der US-amerikanischen High Society – eine Romanze folgt der anderen. Trotzdem treten sie 1965 vor den Traualtar, lassen sich aber ein paar Jahre später wieder scheiden. Obwohl er ein zweites Mal heiratet, tanzen sie noch über zwei Jahrzehnte miteinander.

1969 folgen sie einer Einladung nach Argentinien ins berühmte Caño 14; Copes will im eigenen Land triumphieren und Nieves hat Sehnsucht nach ihrer Familie. In einer Zeit, in der es in Buenos Aires kaum noch Milongas gibt, ist das Caño 14 einer der wenigen Orte, an denen der Tango überlebt. Nieves-Copes stehen u. a. mit Roberto Goyeneche, Anibal Troilo und Nelly Vázquez auf der Bühne.

„Es war jedoch nie einfach”, erinnert sich Nieves, „es ging immer ums Überleben, denn die Türen öffneten sich nur sehr langsam. Aber es war ein Leben mit und für den Tango. Wir hätten in all den Jahrzehnten auch etwas anderes tanzen können, das uns mehr Geld eingebracht hätte, sind aber dem Tango treu geblieben. Wenn die Menschen mich heute so verehren, dann nicht, weil ich die größte Tänzerin bin, sondern weil wir so lange dabei sind.“

Der große Erfolg

In den 80er- Jahren wendet sich das Blatt. Sie tanzen in der Kompanie von Tango Argentino, einer Show, die 1983 in Paris uraufgeführt wird und mit ihrer diskreten und leisen Eleganz alle in ihren Bann zieht. Sie lässt den Tango wiederauferstehen und löst seine bis heute andauernde weltweite Furore aus. „Tango Argentino hatte einen wahnsinnigen Erfolg“, erzählt Nieves, „alle Zeitungen berichteten davon. Es war das Event der Saison. Das Publikum stand wochenlang Schlange, um diesen ‘neuen’ Tango aus den Salons von Buenos Aires zu sehen.“

Auf einen Schlag sind sie das weltberühmte Paar, das zwei Körper repräsentiert, die zu einer Einheit verschmelzen. Das Publikum ist sprachlos angesichts der Schnelligkeit und Geschicklichkeit von Copes’ Füßen und Nieves’ sinnlichen Verzierungen. Für die Frauen ist Maria Nieves Vorbild, sie machen sich anders zurecht, schneiden sich die Haare kurz, tragen Stilettos und Kleider mit gewagten Schlitzen. Es sind ihre besten Jahre; sie tanzen zum Geburtstag von Ronald Reagan im Weißen Haus, sie hat eine gut bezahlte Arbeit, wohnt in exklusiven Hotels und wird als Künstlerin mit Respekt behandelt. Dennoch verlassen sie die Show bereits nach vier Jahren. Warum? Auch das wird Nieves Geheimnis bleiben.

Ein Leben vor und nach Copes

In all diesen Jahren lernt Nieves von Copes die Disziplin, Pünktlichkeit und Zähigkeit, die eine große Tänzerin braucht. „Aber mit ihm zu proben war eine schwierige Geburt“, erinnert sie sich. „Lachen war nicht erlaubt, und man konnte es ihm nur schwer recht machen.“

Für Nieves gibt es ein Vor-und ein Nach-Copes, doch nicht nur für sie. „Die Jugend, die heute als Profitänzer und Tangolehrer lebt, hat das ihm zu verdanken, denn er hat den Tango auf ein professionelles Niveau angehoben“, erläutert sie und fügt hinzu: “Die Idee, vom Unterrichten zu leben, war damals völlig undenkbar.”

Auf die Frage, was sie Tänzern mit auf den Weg geben möchte, antwortet sie: „Die Männer tanzen heute sehr gut, aber warum strecken sie nur so ihren Po raus? Das sollen sie doch lieber den Frauen überlassen, für einen Mann gehört sich das einfach nicht.” Im Handumdrehen erhebt sie sich und demonstriert, was ihr nicht gefällt, und im Publikum bleibt kein Auge trocken. Den Frauen legt sie nahe: „Vergesst vor lauter Technik das Herz nicht. Wenn ihr im Tango zu sehr nach Perfektion sucht, verliert ihr, was ihn außerordentlich macht: La conexion, die Verbindung zum Partner.“

1996 trennt sich das Tanzpaar, tritt aber 1999 noch ein letztes Mal am Broadway auf, bevor ihre Wege endgültig auseinandergehen. Danach zieht sich Nieves zurück. „Fast drei Jahre habe ich gebraucht, um darüber hinwegzukommen. Ich wollte niemanden sehen, nicht mal meine Familie”, erzählt sie, „aber ich bin wieder aufgestanden, dank meiner eigenen Stärke.“

Ende der 90er-Jahre lädt Luis Pereyra, ein ehemaliger Tänzer aus der Kompanie von Copes, sie ein, am Teatro Avenida mit ihm zu tanzen. Sie nimmt die Einladung an, es ist ihre persönliche Rache an Copes. 2002 holt man sie in der Rolle der Puffmutter in  Tanguera an die Theatermeile Calle Corrientes. 18 Monate läuft das Musical in Argentinien, und 2009 steht Nieves damit erneut in Paris und New York auf der Bühne. Tanguera ist Nieves erster Soloauftritt, Gesprächsthema Nummer eins und ein Riesenerfolg. Als das Publikum sie umjubelt, erkennt sie: Die Menschen applaudieren nicht aus Mitleid, sondern weil sie mich als Künstlerin schätzen.“ Die argentinische Tageszeitung Clarin schreibt: „Lasst Maria Nieves alleine tanzen. Sie hat ihren eigenen Glanz.“ Erst da beginnt sie, sich mit weit über 60 nicht nur als Teil von etwas, sondern als eine eigenständige Tänzerin zu sehen und lernt, ihre eigene Managerin zu sein. „Es fiel mir nie leicht, denn früher hat das alles Copes übernommen“, erzählt sie. “Ich war noch lange Zeit der gleiche Einfaltspinsel. Viel zu spät habe ich gelernt, für meinen Wert einzustehen.“

Ein letzter Tanz mit Copes

Heute genießt sie es, wenn sie bei ganz besonderen Gelegenheiten auftritt, wie 2007 und 2011 mit Junior Cervila, 2010 mit ‘Pancho’ Martínez Pey bei der Tangoweltmeisterschaft oder 2013 mit Fabián Peralta in der Milonga. „Ich lache dabei die ganze Zeit“, sagt sie, „und frage mich, was mir Alte nur einfällt, mit so jungen Männern zu tanzen.“ Wenn sie tanzt, dann meist zu ihrem Lieblingstango: Patético von Osvaldo Pugliese. „Wegen Copes-Nieves, weißt du?“, sagt sie augenzwinkernd und überraschend freimütig.

Mit ihm tanzt sie vor drei Jahren nach mehr als einem Jahrzehnt ein letztes Mal bei der 200-Jahrfeier der argentinischen Unabhängigkeit. Erst will sie nicht, hat Angst, sich lächerlich zu machen, aber wieder einmal überzeugt sie Copes. “Was für ein Gefühl, nach all den Jahren wieder in seinen Armen zu tanzen!”, sagt sie. “Auf einen Schlag überfielen mich die Erinnerungen von 30 Jahren, erfüllten mich jedoch mit Freude.”

Als sie 2012 bei einer Hommage im Rahmen der Tangoweltmeisterschaft geehrt wird, hat sie einen Knoten im Hals und kann die Tränen nicht zurückhalten. Von ihrem Garderobenraum aus sieht sie auf der übergroßen Leinwand, wie sie vor Jahrzehnten mit Copes in Tokio tanzt, und denkt überrascht: “Das sah ja schön aus.“8 Es ist das erste Mal, dass sie sich selbst als Tänzerin gefällt.

Nieves hat die schönsten Momente ihres Lebens auf der Bühne verbracht, weil sie dort die Liebe und Bewunderung des Publikums spürte. Aber auch, weil sie mit Herz und Seele tanzt, weil dann nichts anderes mehr für sie existiert und sie in diesem Moment ganz und gar an sich selbst glauben kann. Was der Tango für sie bedeutet? „Alles“, sagt sie, „er war von Anbeginn ein Teil meines Körpers, etwas, das schon immer in mir war. Ich habe ihm alles zu verdanken. Er hat mich aus der Armut geholt, mir einen Namen und eine Aufgabe gegeben. Ich wurde geboren, um Tango zu tanzen – und ich werde auch für meinen Tango sterben.“

1        Ein Interview fand in der Reihe „Tengo una pregunta para vos“ von Pepa Palazon statt. Das Zweite wurde gleich anschließend von Ute Neumaier geführt.
2        Ich habe eine Frage an dich, eine Interview-Reihe, bei der Tangotänzer und -sänger von Tangueros befragt werden. www.preguntaparavos.com.ar
3        “Ich bin in die Jahre gekommen”
4        Mietskasernen für arme Leute
5        Zitat aus einem Interview von Moira Soto in www.todotango.com aus der Tageszeitung Página/12, vom 24. Januar 2003
6         Hallenstadion in Buenos Aires im Stadtteil San Nicolás
7        Juan Carlos Copes und sein Tangoballett, von Copes gegründete Laien-Tanzgruppe bestehend aus zehn Tanzpaaren aus Milongas
8        Zitat aus einem Interview in Tangauta Nr. 194/2010

Anmerkung des Autors: Bildmaterial wurde von German Kral, Regisseur von „Der letzte Applaus“, bereitgestellt, der an einem Film über das Leben von Maria Nieves und Juan Carlos Copes arbeitet.