Die Toilettendamen von Buenos Aires - Erste Hilfe für die Milongueras

von Ute Neumaier, Buenos Aires, veröffentlicht in Tangodanza Nr. 40, Oktober 2009  

Toilettendamen, Toilettenherren – man kennt sie in Deutschland nur noch als aussterbende Spezies, deren wortkarg verrichtete Funktion zunehmend die voll automatisierte Toilettenmaschine übernimmt.  Ganz anders in Argentinien, wo die stillen Örtchen alles andere als still sind und einer ihrer guten Geister sogar Titelheld eines Theaterstücks wurde und als „El Señor del baño“ sieben Jahre lang erfolgreich in den Theatern von Buenos Aires gespielt wurde. Wer in den Milongas von Buenos Aires unterwegs ist, begegnet ihnen bald, diesen vielseitigen Engeln, die der Milonguera bei praktischen wie seelischen Nöten helfend zur Seite stehen.

In der Matinee-Milonga Nuevo Chique im Club Galicia erwartet mich Silvia Mirta Greco voller Stolz. Die Mittfünfzigerin ist Mutter eines erwachsenen Sohnes, seit 10 Jahren Toilettendame und an anderen Tagen auch in der Milonga Lo de Celia zu finden. Auf ihrem Gabentisch liegt sorgfältig gefaltetes Toilettenpapier bereit, das sie der Besucherin unaufgefordert und sanft in die Hand drückt. Doch das ist nur der profanste aller Dienste aus ihrem bunten und kaum zu überblickenden Sortiment.

Die fröhliche, kokette Dame achtet hier nicht nur auf Sauberkeit, sie verkauft oder verleiht auch fast alles, was das Herz einer Tänzerin begehrt. Aus ihrem Erste-Hilfe-Kit für Milongueras zaubert sie je nach Bedarf Heilmittel gegen alles, was uneingeschränktes Tanzvergnügen schmälern könnte: Kosmetika, um sich nach einem anstrengenden Arbeitstag zu schminken; Schuhbürsten, um Tangoschuhe auf Hochglanz zu bringen; transparenten und schwarzen Nagellack, um Laufmaschen unauffällig zu reparieren; Deodorant und Hygieneartikel für alle Fälle; Nadel und Faden, falls sich ein Saum löst und Sekundenkleber, um einen wackeligen Absatz so herzurichten, dass er noch ein paar Stunden hält. Präservative gibt es bei Silvia nicht, in anderen Milongas aber schon. Käuflich zu haben sind Bonbons, Tempotaschentücher und Alkohol in Gelform für die Desinfektion der Hände.

Silvia war Kosmetikerin in einem Friseursalon, bis ihr eine Kundin die Arbeit als Toilettendame anbot. Seitdem ist sie unabhängige Herrscherin in ihrem kleinen Reich, wo sie höchst abwechslungsreiche Aufgaben wahrnimmt: Expertin in Hygiene, Kummerkasten, mütterliche Ratgeberin, Informationsdienst oder Stilberaterin.

Ihre Kollegin Rosa Montenegro residiert in der Milonga Sueño Porteño und im berühmten Salon Canning. Die 53-jährige Mutter von zwei erwachsenen Töchtern war einst Besitzerin einer Confitería, aber bei dem wirtschaftlichen Zusammenbruch Argentiniens im Jahr 2001 verlor sie alles.

Von draußen dringt die Musik herein und untermalt unser Gespräch, es ist ein Kommen und Gehen wie im Taubenschlag. Manche Damen nehmen unbefangen an unserem Gespräch teil, andere schminken sich, kleiden sich um, tauschen den letzten Milongaklatsch aus, wechseln die Schuhe und verwandeln sich mit geübten Griffen von der Büroangestellten in eine schillernde Milonguera.

Gezwungen durch die Umstände, wurde Rosa vor acht Jahren zunächst nur widerstrebend Toilettendame. Heute liebt sie, was sie tut. Wie für Silvia ist auch für Rosa das Menschliche am wichtigsten: Sie ist gerne für die Frauen da, sei es mit Nadel und Faden, Strümpfen, Creme oder seelischem Beistand.

Rosa verkauft auch Modeschmuck und Kleider, die sie zu Arbeitsbeginn sorgfältig über einer Toilettentür drapiert – frau muss sich etwas bücken, um unter den Kleidern zum Örtchen zu gelangen. Aber Improvisation ist in Argentinien alles. Und für den Tangonotfall hält Rosa so gut wie alles bereit: Pflaster, CDs, Pfefferminzbonbons für „tangoreinen“ Atem und Antiseptikum, falls mal der eigene oder ein fremder Absatz ungewollt Unheil anrichten.

Es ist vor allem die Wärme, das persönliche Sichkümmern, was die Milongueras an Rosa schätzen. Vor ein paar Tagen hat hier eine Ausländerin geweint, weil sie nach 6 Monaten Tangoaufenthalt abreisen musste. Rosa hörte zu und bestellte ihr einen Tee mit viel Zucker. Für sie ist es das Wichtigste, den Damen Mimos – Streicheleinheiten für Körper und Seele – zu geben, sie zu beruhigen und auch mal in den Arm zu nehmen. Und sie ist stolz darauf, dass man ihr vertraut.

Wenn Rosa nicht da ist, fehlt einfach was, sagen die Milongueras. Als sie aus Krankheitsgründen ein paar Tage zu Hause bleiben musste, hieß es bei ihrer Rückkehr: Die Milonga sei ohne Rosa wie die Avenida 9 de Julio ohne den Obelisco*. Hier im Sueño Porteño arbeitet Rosa so gerne, dass sie ein Gedicht über die Milonga geschrieben hat. Sie liest es mir vor

Ob Niño Bien oder La Viruta, man findet sie überall, die Rosas oder Silvias der Tangotoiletten. Und das ist gut so, denn die Tangowelt von Buenos Aires wäre um einiges kälter ohne sie, die verschwiegenen Hüterinnen der großen und kleinen Geheimnisse einer Milonga Porteña.

* 20-spurige Hauptverkehrsader von Buenos Aires und breiteste Straße der Welt mit dem Wahrzeichen der Stadt