von Ute Neumaier, Buenos Aires, veröffentlicht in Tangodanza Nr. 43, Juli 2010
Tangounterricht in Buenos Aires – wer möchte sich diesen Wunsch nicht mehr erfüllen? Die riesige Stadt bietet Unterricht an 7 Tagen der Woche, nahezu rund um die Uhr. Angesichts der der unübersehbaren Anzahl von Lehrern, Schulen und verschiedenen Stile kann man sich da leicht erschlagen fühlen, auch weil so viele Fragen beantwortet werden müssen. Wohin, bei wem, brauche ich einen Partner, welches Niveau, Gruppenunterricht oder Einzelstunden, muss ich Spanisch können, was ist sonst noch zu beachten? Man irrt erst einmal orientierungslos von einem Lehrer zum anderen – und findet am Ende vielleicht das, was man sucht. Damit sich unsere Leser in diesem Tangodschungel am Rio de la Plata ein bisschen besser zurechtfinden und nicht so viel kostbare Zeit ihrer lang ersehnten Tangoreise verplempern, starten wir in diesem Heft eine neue Serie über Tanzschulen in Buenos Aires: Geordnet nach Stilen stellen wir jeweils zwei Schulen vor, je mit einem Serviceteil, der Orte, Zeiten und Preise nennt.
In einer neuen Serie stellt Tangodanza unterschiedliche Tangoschulen in Buenos Aires vor – pro Folge je zwei Schulen, die einen bestimmten Stil vertreten. Unsere Auswahl ist dabei exemplarischer Art und geprägt von persönlichen Erfahrungen und Berichten. Damit wollen wir Tangoreisenden eine Orientierungshilfe geben, um sich in dem fast unübersichtlichen Angebot etwas leichter zurechtzufinden – und anhand der Beschreibungen besser Vergleiche anstellen und gezielt den Stil und die Schule finden zu können, die ihr Herz begehrt.
Unsere Serie startet mit Tango de salón und den beiden Schulen Estudio la Esquina und Tangoescuela Carlos Copello. Beide Schulen verfolgen innerhalb der Kategorie Salontango jeweils ihr eigenes, individuelles Unterrichtskonzept, stimmen aber in vielen ihrer Grundsätze überein.
Estudio la Esquina
Gründer und Leiter der Schule sind Vilma Vega und Fernando Galera, die sich auf internationaler Ebene seit Langem einen Namen gemacht haben. Fernando tanzt seit 21, Vilma seit 15 Jahren, so lange sind sie auch ein Paar, im Tanz und im Leben. Als Showtänzer und erfahrene Lehrer beindrucken sie mit profundem Wissen, fundierter Didaktik und einem guten Sinn für Humor, den jeder im Unterricht zu spüren bekommt.
Das Studio liegt direkt im lärmenden Microcentro der Stadt, nicht weit vom Obelisken. Mit dem Aufzug fährt man in den 4. Stock des Altbaus und betritt ein lichtdurchflutetes, in frischem Grün gestrichenes Studio. Lärm und die Geschäftigkeit der Innenstadt bleiben draußen, hier atmet man Tanz. An der Rezeption wird man freundlich empfangen und gerne auch in Englisch beraten.
La Esquina mit ihren 160 qm und zwei Tanzsälen wurde vor sechs Jahren gegründet. Am Tag meines Besuches herrscht reges Treiben, eine ganz besondere Atmosphäre aus Kreativität, Konzentration und harter Arbeit. Die hier schuften, so erfahre ich, sind die Tänzer des Musicals Tanguera. Das Studio hat den größten Tanzraum von Buenos Aires, deshalb nutzen es Kompanien wie Forever Tango und andere Shows gerne für Training und Proben.
Unterrichtet wird in La Esquina hauptsächlich Tango, aber auch Folklore. Lehrer sind Vil und Fer, wie sie in Buenos Aires liebevoll genannt werden, und ein fester Lehrerstamm von sechs Paaren, die nur eine Tournee vom Unterricht fernhalten kann. Die Schule steht für Qualität und Tradition, wer hier unterrichten will, muss seine Eignung unter Beweis stellen. Jedes Lehrerpaar tanzt und unterrichtet auf individuelle Weise Tango de salón; einig sind sich aber alle im Konzept und in Ihrem Verständnis vom Tango.
Konzept:
Statt von Tango de Salón spricht man hier lieber von Tango social, Gesellschaftstango. Dieser soll als das vermittelt werden, was er war und ist: ein gesellschaftliches Phänomen, nicht nur eine Körpertechnik. Denn, so Vilma und Fernando, welchen Stil man tanzt, zählt auf der – mitunter brechend vollen Tanzfläche – nicht. Da gilt nur, ob man mit anderen als Teil einer Gemeinschaft tanzen und klarkommen kann.
Unterricht:
So steht im Unterricht auch das im Vordergrund, was für das Tanzen in der Milonga elementar ist: Verbindung im Paar, Tanzrichtung, Orientierung im Raum, organische Bewegungsfolgen, Beziehung zum Tanzpartner, das ‘Wie’ das Aufforderns.
Statt die Schüler – wie in Europa üblich – in unterschiedliche Niveaus einzuteilen, werden in La Esquina Neustarter und Fortgeschrittene in fast allen Stunden gemeinsam unterrichtet. Vilma und Fernando sind überzeugt, dass davon beide profitieren.
Technik soll innerhalb der Ursprünglichkeit des Tangos vermittelt werden. Vorbild ist der natürliche, organische Tango der alten Leute. Früher lernte eine Frau, indem sie sich in die Arme des Mannes begab, die Augen zumachte und die Beine locker ließ. Im La Esquina möchte man Schülern zurück zu dieser Natürlichkeit verhelfen, ihnen vermitteln, wie der Körper bereitzustellen ist, damit er den anderen fühlen und sich wirklich auf ihn einlassen kann. Tango ist Gefühl im Paar, gemeinsames Tun.
Für Vilma und Fernando führt zu viel Technik zu Stereotypen und dazu, dass alle gleich tanzen. Heute seien die Schüler voller Wissen, lernten schneller, aber weniger entspannt. Es werde zu viel systematisiert und strukturiert, das nehme dem Tango das Persönliche und Ursprüngliche. Deshalb versucht man in La Esquina den Schülern dieses Zuviel an Informationen ‚wegzunehmen’.
Wert legen die beiden auch darauf, die dem Tango zugrundeliegenden logischen Konzepte nachvollziehbar zu machen. Etwa die Rolle der Frau: Sie geht rückwärts, also muss sie warten. Sie sieht nichts, also gibt sie nicht aktiv den Impuls zur Bewegung, sondern nimmt ihn ‚nur’ auf. Aber ihre Rolle ist deshalb nicht weniger wichtig. Eine weitere Erklärungsvariante: Figuren werden immer nur um den eigenen Körper herum, nicht außerhalb der Achse getanzt, weil nur so ein rücksichtsvolles und unfallfreies Tanzen auf einer vollen Tanzfläche möglich ist.
Vereinfachung, das ist die Devise. Aber einfach bedeutet nicht leicht. Das Schwierige ist eben, dass man nicht alleine tanzt. Das lässt sich aber nicht durch Technik, sondern in erster Linie durch Sensibilität lernen.
Deshalb werden hier keine durchgezählten ‚Grundschritte’ gelehrt. Die Logik ist eine andere. Beginnend beim Spiel mit dem Gewichtswechsel über gemeinsames Gehen, sich fühlen, Verbindung im Paar und Umarmung kommen die Schüler mit ganz wenigen Mitteln schnell in die Milonga, ohne zu viel Mathematik.
Lehrer…
Vielleicht sind nicht alle Lehrer von La Esquina im Ausland bekannt. In Argentinien sind sie ein Begriff, haben einen guten Ruf und ihre treuen Fans. Menschlichkeit, künstlerische Qualität und guten Unterricht, das vereint sie alle.
Tango unterrichten neben Fernando Galera & Vilma Vega: Sabina & Ruben Véliz, Juan Ruggieri & Déborah Quiroga, Alberto Sendra & Fernanda Japas, Pancho Martinez-Pey & Gaby Amalfitani.
Aktivitäten…
Vilma und Fernando gehen immer noch in die Milonga, am liebsten in Begleitung einer großen Gruppe von Schülern. So kommt nicht nur jeder zum Tanzen, sondern es entsteht auch ein ungezwungener Austausch zwischen Schülern und Lehrern. Zum Jahresende und zum Geburtstag von La Esquina tanzen Lehrer und Schüler z. B. im Sunderland vor. Das sollte man sich nicht entgehen lassen. Bei der Tangoparodie von Vilma und Fernando bleibt kein Auge trocken…
Ins Ausland reisen die beiden nur noch teilweise zusammen. Jemand müsse ja nach der Schule schauen, und Vir hält es mehr als 12 Tage ohne Buenos Aires nicht aus. Sie braucht dieses Chaos – und ihre vier Kinder sie.
Preise…
Gruppenstunde von 90 Minuten: 30 ARS, Zehnerkarte: 250 ARS. Die Preise der Privatstunden sind mit jedem Lehrer individuell auszuhandeln, sie liegen um die 60,– Euro. Ein Tanzpartner ist nicht erforderlich, da Partner getauscht werden und Stunden einzeln genommen werden können.
Kontakt:
http://estudiolaesquina.blogspot.com/
Email: estudiolaesquina@gmail.com
Tango Escuela de Carlos Copello
Die Tango Escuela de Carlos Copello liegt direkt gegenüber dem Abasto-Einkaufszentrum, wo einst der Gemüsegroßmarkt war. Carlos Copello, u. a. berühmt aus Tangolesson und den Shows Tango Argentino und Forever Tango, hat sie 2003 gegründet. Die Idee dazu kam ihm schon 1989. Auf einer Japan-Tournee entdeckte er, was es in Argentinien damals noch nicht gab: eine Schule, die sich ausschließlich dem Tango widmete. Entschlossen ging er daran, seinen Traum zu verwirklichen: Eine Tangoschule zu gründen, die seinen Maestros den Respekt zollt, der ihnen gebührt.
Das Viertel Abasto war damals eine finstere, verrufene Gegend. Doch hier und nirgendwo anders sollte die Schule sein. Wie früher Carlos Gardel streunte Carlos Copello durch die Straßen, bis er ein verlassenes Gebäude fand, völlig heruntergekommen, kaum betretbar. Der Besitzer hielt ihn für verrückt und prophezeite ein Fiasko. Dann wurde eineinhalb Jahre renoviert, so gut es eben mit den geringen Mitteln ging. Am Anfang gab es noch nicht mal eine ordentliche Musikanlage. Die Schüler kamen trotzdem, sie spürten den Tango, sagt Carlos.
Heute hat die Schule nichts Verfallenes mehr. Auf 500 qm und über zwei Stockwerke verteilt bietet sie acht Tanzräume, alle leuchtend rosa, rot, lila, grün und blau gestrichen. Osvaldo Pugliese, Pepito Avellaneda und Antonio Todaro blicken gütig aus verschnörkelten Bilderrahmen, im Wind der Ventilatoren flattern bunte Fähnchen aus allen Herren Ländern neben einer imposanten blau-weißen Flagge von La Argentina. Die anheimelnde Mischung aus Tangokitsch und nostalgischem Charme passt gut ins Viertel. Präsident der Schule ist nicht Copello, sondern sein Namensvetter Carlos Gardel, der jedem Schüler direkt am Eingang sein strahlendes Lächeln schenkt. Copello zündet jeden Tag eine Kerze für den Tangoheiligen an, der für ihn den Geist und die Seele des Tangos repräsentiert.
In der Bar sorgt Carlos’ Frau Nora mit Snacks und Drinks für die Schüler. Sohn Maxi tritt in Carlos’ Fußstapfen und unterrichtet mit der Freundin Nadia Johnson. Und Tochter Miriam leitet die Schule und sorgt mal an der Rezeption, mal im Hintergrund dafür, dass der Laden läuft: ein authentischer argentinischer Tangofamilienbetrieb.
Konzept:
Ganz einig ist man sich nicht, wenn es um die Definition des unterrichteten Tangostils geht. Für Miriam und die Lehrer ist es Tango de salón, für Carlos un baile popular, ein Volkstanz. Gemeint ist letztendlich das Gleiche: ein ursprünglicher Tango, tief verwurzelt in Traditionen. Carlos sagt, ihm sei jeder Tango recht, er müsse nur gut getanzt werden und echt sein.
Unterricht…
Vermittelt wird das Tango-ABC: Kenntnis der Orchester und Musikstile, Haltung, Gehen, Gefühl für den Rhythmus und für die Frau, denn die sei kein mamarracho, keine Vogelscheuche, an der man herumzerren kann. Schwerpunkt ist bei allen Lehrern die Musik. Außerhalb des Taktes zu tanzen gilt als Mangel an Respekt gegenüber dem Tango. Das braucht Zeit und Geduld, sagt Carlos, denn Tango ist nicht im Hauruckverfahren zu lernen. Etwas Neues kann man nur tanzen, wenn man das Alte, die Tradition beherrscht. Hat der Schüler das ABC erlernt, kann er die Regeln brechen, Neues erfinden und sogar fliegen.
Gruppenunterricht gibt es an sieben Tagen der Woche, von 13.00 bis 23.00 Uhr in drei unterschiedlichen Niveaus.
Willkommen ist jeder, egal wie alt oder jung. Denn für Carlos gibt es kein Alter im Tango: „Mit den Jahren wird er sogar reifer, man kann ihn besser genießen und kommt seiner Seele immer näher“.
Lehrer…
Seine Lehrer sucht Carlos selbst aus. Sieht er in der Milonga ein Paar, das ‚Tango’ hat, lädt er es ein. Auf große Namen legt er keinen Wert. Doch Größen wie Natacha Poberaj oder Fabian Peralta sind ihm seit vielen Jahren treu. Unterrichtet werden neben Tango auch andere ‚Volkstänze’, wie Carlos sie nennt: Salsa, Rock n’roll, Folklore, Swing. Und Englisch sprechen die meisten Lehrer auch.
Tango unterrichten neben Carlos Copello: Maxi Copello & Nadia Johnson, Fabián
Peralta & Virginia Pandolfi, Natacha Poberaj & Juan Manuel, Fernandez, Yanina Erramouspe & Adrian Vallejos, Hernán Rodriguez Chaile & Maria Florencia
Labiano und Silvana Nuñez.
Aktivitäten…
Ein Markenzeichen der Schule: In völliger Selbstverständlichkeit trainieren Erwachsene gemeinsam mit Kindern, wie Mini (9) oder Gustavo (14). Mini hat seit drei und Gustavo seit sechs Jahren, wie viele andere Kinder, ein Stipendium; nur so ist es ihnen möglich, jeden Tag voller Eifer zu üben. Zugelassen werden aber nur tangoverliebte Kinder, die aus eigenen Stücken kommen, nicht weil ihre ehrgeizigen Eltern sie schicken. Für viele ist die Escuela ihr zweites Zuhause.
Höhepunkt ist das große Schulfest am Jahresende und die Geburtstagsfeier im August. Nach Wochen harter Arbeit und fieberhafter Proben stellen Schüler und Lehrer vor, was sie im Jahr gelernt haben. Carlos liebt es, im Café sitzend zu verfolgen, wie alle mit größtem Eifer auf den großen Tag hinarbeiten. Die Begeisterung der Kinder geht ihm ans Herz. Dann nimmt er sich vor, noch viel mehr für die Jugend zu tun. Denn die wird den Tango weitertragen und bewahren und das macht ihn unendlich glücklich.
Preise…
Gruppenstunde von 90 Minuten: 23,– ARS, 10er Karte 180,–. Einzelstunden mit den Lehrern circa 60,– Euro mit Carlos Copello 95,– Euro.
Tango de Salón
Geschichte:
Zur Zeit des 2. Weltkriegs erlebte Argentinien einen wirtschaftlichen Aufschwung. Im Stadtzentrum von Buenos Aires entstanden Cafés und Salons, in denen berühmte Orchester zum Tanz aufspielten. Das ‚Goldene Zeitalter’ des Tango hatte begonnen.
Eine Tanzrichtung gab es noch nicht, die Paare bewegten sich frei oder linear im Raum. Ab den 50er Jahren wurde der Tanz auf den engen Tanzflächen immer anspruchsvoller, es entwickeln sich Platz sparende Kombinationen und die Tanzrichtung erfolgte gegen den Uhrzeigersinn.
Merkmale:
Tango de Salon lebt von der Improvisation und von der Kommunikation zwischen den Partnern. Es gibt festgelegte Grundelemente, die im Tanz jederzeit verändert werden können.
Getanzt wird in enger Umarmung zur Musik der Orchester aus den 20er bis 40er Jahren. Schwerpunkte sind die Interpretation der Musik, Langsamkeit, Eleganz und ruhiges Gehen, bei dem die Füße am Boden bleiben, ohne Ganchos, Boleos und Sacadas.
Haltung:
Die Tänzer stehen einander gegenüber, die Oberkörper sind leicht aneinander gelehnt, ohne dass einer der beiden seine Achse aufgibt. Durch dieses sogenannte Apile entsteht im Beinbereich ein Spielraum, der Bewegungen trotz der engen Umarmung möglich macht, ohne dass die Knie der Partner aneinanderstoßen. Die Frau hat damit mehr Freiheit für Drehungen und Pivots, ohne dass große Becken- oder Oberkörperbewegungen erforderlich sind.
Die Oberkörper befinden sich in kontinuierlicher Umarmung; die Führung geht von der Brust des Mannes aus und ist von außen nicht wahrnehmbar. So wirken die Tänzer wie eine Einheit und die Frau wie von magischer Hand geführt.
Die Gesichter der Tänzer berühren sich; sie blicken entweder in entgegengesetzte Richtung, d. h., die Frau schaut über die Schulter des Partners, oder sie blicken Wange an Wange in Tanzrichtung, wodurch die Oberkörper sich in minimaler V-Stellung befinden.
Musik und Tänzer:
Die bevorzugte Musik ist melodiös und weist wenig Stakkato auf. Salonstil wird vor allem mit den Orchestern Carlos di Sarli, Tanturi, Agostino, Troilo und Calo assoziiert. Zu den berühmtesten Tänzern der letzten 10 Jahre zählen „Ramón Ribera „Finito“ und der kürzlich verstorbene Pedro Alberto Rusconi „Tete“.
Quellen:
Gustavo Sabá Benzecry (2004), Glosario Tangodanza, Abrazos
Gustavo Sabá Benzecry (2007), Auf der Spur der Umarmung, Abrazos
Sedo Melina (2003) Geschlechterrollen im argentinischen Tango, Diplomarbeit