von Ute Neumaier, Buenos Aires, veröffentlicht in Tangodanza Nr. 50, April 2012
Ein lichtdurchflutetes Appartment mit Blick über die Dächer von San Telmo, zwei Nähmaschinen, Schneiderpuppen, eine Katze und mittendrin Claudia Heinrig – voller Lachen und Lebenslust, manchmal voller Sorge und dennoch immer mit dieser Leichtigkeit, die perlend nach oben strebt und alles Schwere am Grund zurücklässt. Das Telefon klingelt pausenlos, auch am Wochenende macht sie Termine. Dabei redet sie leidenschaftlich gerne, vorzugsweise in zwei Sprachen gleichzeitig, springt wortreich vom Heute ins Gestern, wechselt munter von Anekdoten zu neuen Projekten. Immer wieder wirft sie ein „bueno“ in ihren Redefluss, schüttelt ihre rote Lockenmähne, lacht ihr quirliges Lachen und ist ein bisschen wie ihre Wahlheimat Buenos Aires: wechselhaft und voller Leben.
So wandelbar und lebendig wie ihre Schöpferin ist auch Claudia Heinrigs Tangomode. Nahezu jedes Kleidungsstück lässt sich mit wenigen Handgriffen verändern: Ein Pulli wird zum Rock und der wiederum zum Kleid, eine Hose verwandelt sich in einen eleganten Catsuit, mal mit weit schwingendem Hosenbein, mal pfiffig unterm Knie geknotet. Manche Kleidungsstücke bleiben, was sie sind, verändern aber ihren Charakter durch verschiedene Arten sie zu tragen, zu wickeln oder zu binden. Möglichkeiten zur Verwandlung bietet auch das Spiel mit Farben: Viele Stücke sind außen farblich anders gestaltet als innen und beidseitig tragbar. Durch einfaches Wenden zeigen sie ein ganz neues Gesicht.
Wegen geringer Budgets musste die ehemalige Kostümbildnerin am Theater schnell lernen, vielseitig verwendbare Kleidungsstücke zu entwerfen. Aus der Not machte sie eine Tugend, und was einst ein Muss war, ist heute das Besondere der Marke „Claudia Heinrig“: Edel, einfach, aber effektvoll. Individuell wandelbare Stücke zeichnen ihre Kollektion aus, eine feminine Mode für den besonderen Anlass, die das Unverwechselbare jeder Frau zur Geltung bringt.
Stoff ist Bewegung
Die in Argentinien so beliebten, eher steifen Stoffe mag Claudia nicht und zieht bessere Qualität aus dem Ausland vor: verschiedene Jerseyarten, Seide, Spitzen, aber auch reine Baumwolle und Leinen. Der Stoff muss der Tänzerin schmeicheln, er muss fließen, anmutig fallen, ihre Bewegungen begleiten, betonen und zu Ende führen. Auch der Komfort ihrer Kundinnen liegt Claudia am Herzen, weshalb sie vorwiegend knitterfreie und dehnbare Stoffe verwendet. Sie tragen sich nicht nur angenehm auf der Haut, sondern erleichtern auch das Leben einer Tanguera: Sie kann ihr Tangoutfit einfach in den Koffer knüllen und ist am Abend in der Milonga dennoch elegant und makellos gekleidet. „Tangodamen reisen gerne,“ sagt Claudia, „und da wollen sie ganz sicher nicht ihre Zeit mit Bügeln verbringen.“
Maßarbeit auch per Internet
Damit alles perfekt und faltenlos sitzt, nimmt Claudia nach einer Stil- und Stoffberatung, bei der sie sich an die Wünsche ihrer Kundin herantastet, genaustens Maß. In der Regel ist sie erst nach zwei bis drei Anproben voll und ganz zufrieden.
Doch frau muss nicht eigens nach Buenos Aires reisen, um sich ein individuelles Stück aus Claudias Atelier anfertigen zu lassen. Sie kann es auch per Internet oder bei einem Festival in Deutschland oder der Schweiz bestellen. Die Maße und die Figur ihrer Stammkundinnen kennt Claudia in- und auswendig, denn sie hat, wenn es um Mode geht, ein geradezu fotografisches Gedächtnis. Bei neuen Kundinnen holt sie sich die erforderlichen Informationen über Fotos oder einen Austausch über Skype.
Wer möglichst schnell und einfach zu einem dieser vielseitigen Designerstücke kommen möchte, kann aus einer Basis-Kollektion von wandelbaren Modellen wählen, die meist aus elastischen Stoffen gefertigt sind und sich daher wie eine zweite Haut jeder Figur anpassen.
Blick für das Besondere
Jeder Stoff hat etwas Eigenes und Unverwechselbares, wovon sich Claudia bei ihren Kreationen inspirieren lässt. Genauso individuell und einzigartig sind für sie ihre Kundinnen: Jede hat einen eigenen Typ, ihre persönlichen Vorstellungen und ein ganz besonderes Anliegen. Meist ist es der Wunsch, eine kleine, als Makel empfundene Eigenart zu verbergen: ein Bäuchlein, zu viel oder zu wenig Busen, zu breite oder keine Hüften – die Liste dessen, was Frauen an sich nicht mögen, ist schier endlos und Claudia wohlbekannt. „Ein schönes Kleid, das solche Dinge geschickt kaschiert, ist für eine Frau oft das größte Glück,“ erzählt die Modeschöpferin. Vielleicht rufen ihre Kundinnen aus Europa, Asien und Amerika sie deshalb oft schon vor ihrer Abreise an, um einen Termin zu vereinbaren, denn nach einer so individuellen Betreuung muss man andernorts sicher lange suchen.
Sich neu erfinden
Auf die Idee, ihre eigene Mode zu machen, bringen Claudia 2005 zwei Tänzerinnen, die sie auf ihr nach eigenem Entwurf geschneidertes Kleid ansprechen und es bestellen wollen. Sie eröffnet ihr erstes Atelier in San Telmo und erinnert sich, wie sie an ihrer billigen Nähmaschine wieder selbst Hand anlegen musste. Stoffe kaufen, Maß nehmen, zuschneiden, abstecken, nähen und per Hand säumen, das hatten früher andere für sie erledigt, während sie Schnitte anfertigte, anprobierte oder Führungsaufgaben nachging. „Ich bin aber mehr die Kreative,“ sagt Claudia, fügt dann ein „bueno“ hinzu und lacht.
Für Veränderung hatte Claudia Heinrig schon immer ein Faible. Deshalb hatte die gebürtige Saarländerin auch schon vor ihrem Umzug nach Argentinien ein wechselhaftes Leben und keine Scheu, neue Schritte zu gehen, wenn es um die Erfüllung ihrer Träume ging. Ans Theater wollte sie, deshalb zog es sie vom Saarland nach Detmold, dann nach Koblenz. Die Schneidermeisterin wurde zur Gewandmeisterin und leitete über Jahre die Kostümabteilung an verschiedenen Theatern. Die Liebe zum Theater hat sie nie ganz losgelassen und so entwirft sie neben Tango- und Brautmode auch immer wieder etwas für die Bühne. Auf diese Weise gönnt sie sich den Luxus, eine Idee oder ein Projekt aus ideellen Gründen zu unterstützen, z. B. die Drei-Frauen-Performance der finnischen Choreografin Favela Ortiz oder ein Stück von Amira Campora. An Angeboten mangelt es ihr in der Kunst- und Theatermetropole Buenos Aires nicht.
Aufbruch zu neuen Ufern
Lebhaft erinnert sie sich daran, wie sehr diese Stadt, in der sie seit 2004 lebt, sie vom ersten Augenblick an in ihren Bann zog. „Buenos Aires war eine Chance,“ sagt sie, und die hat sie beherzt ergriffen. Im Vergleich zum ruhigen Detmold war die Metropole eine völlig neue Welt, die sie wieder freier atmen und zu neuer Lebendigkeit erwachen ließ. Das Wetter, der Himmel, die Cafés, Bummeln durch die Stadt – alles fand sie toll, auch die Menschen, die Milongas und die argentinische Tradition, durch Cabeceo aufzufordern, denn so musste sie nicht Spanisch reden, was sie anfangs ja noch nicht konnte. Lachend erinnert sie sich an ihr gutes Sitzfleisch und wie begeistert sie bis früh am Morgen in der Milonga blieb, weil die guten Tänzer die Frauen oft erst dann aufforderten – vielleicht in der Absicht, eine abzuschleppen. Aber das hat sie damals alles durch die rosarote Brille gesehen.
Ein paar Jahre sind seitdem vergangen, sie sitzt seltener als früher in den schönen Cafés, Zeit zum Stadtbummel bleibt ihr kaum und bis frühmorgens hält sie es in der Milonga auch nicht mehr aus. Aber den Tango liebt sie nach wie vor, genauso wie ihr Leben in der Metropole. Klar, arbeiten muss sie viel mehr als früher am Theater und das hätte sie sich damals nicht träumen lassen. Dennoch, sie ist gerne genau da, wo sie ist, und hat diesen Schritt nie bereut.
Auch wenn sie heute zuweilen nur erstaunt den Kopf schütteln kann über sich und ihren damaligen Entschluss. Blauäugig, so sieht sie das jetzt, und ja, einen Mann hat es auch gegeben, ohne den sie vielleicht nicht den Mut gehabt hätte, diesen Schritt zu gehen. Aber es muss wohl noch mehr gewesen sein: Fernweh, ungelebte Träume, Abenteuerlust. Also nahm sie ihr Herz in beide Hände, kündigte und ließ ihr deutsches Leben hinter sich, als sei es das Einfachste der Welt. Danach hieß es dann: Augen zu und durch und kämpfen lernen.
Erfahrung weitergeben
Dass sie kämpfen kann, hat sie gezeigt, denn Überlebenskampf gehört in Argentinien zu den Alltagsdisziplinen. Aber es geht ihr um mehr, sie liebt ihre Arbeit, will sich weiterentwickeln, will künstlerisch und persönlich wachsen. Ideen für neue Projekte hat sie jede Menge. Ihr Traum: Wie früher am Theater Lehrlinge auszubilden, ihr Wissen an die Jugend weiterzugeben, dafür zu sorgen, dass das Handwerk nicht ausstirbt. Es ist für sie kein Zufall, dass sie in San Telmo lebt und arbeitet, einem Stadtteil, in dem die Härten der argentinischen Realität jeden Tag deutlich zu spüren sind, wo es sichtbare Armut und vernachlässigte Kinder gibt. Für die möchte sie gerne etwas tun, ihnen etwas geben, was ihr selbst geholfen hat, ihren eigenen Weg zu gehen: eine solide Basis, Mut und Entschlossenheit, um Chancen der Veränderung zu ergreifen und ihre Träume zu verwirklichen.
Verkauf in Deutschland:
Atelier Monika Hussinger, Dillingen & Hacke und Spitze, Berlin