von Ute Neumaier, Buenos Aires, veröffentlicht in Tangodanza Nr. 45, Januar 2011
Der eng und auf kleinem Raum getanzte Tango ist das Thema unserer dritten und letzten Folge über Tangoschulen in Buenos Aires – der Estilo Milonguero. Wie bei den bisher vorgestellten Tangostilen gibt es auch hier unterschiedliche Interpretationen. Den Begriff, den wir hier verwenden, hat Susana Miller populär gemacht, und sie vertritt ihn gemeinsam mit Maria Plazaola auch ganz explizit. Andere Lehrer, die mit diesem Stil in Zusammenhang gebracht werden, beziehen sich ausdrücklich nicht auf diese Bezeichnung, sondern definieren ihre Ausrichtung als einen zwischen ‚Salón’ und ‚Milonguero’ angesiedelten Gesellschaftstango.
Definition:
Miguel Angel Zotto sieht, so das Glosario de Tango Danza von Gustavo Benzecry Sabá, den Tango der 40er Jahre als Basis für alle Tänzer und weitere Entwicklungen des Genres. Estilo Milonguero hat für ihn erst in den 60er Jahren begonnen, als sich in den wenigen Milongas immer mehr Menschen tummelten, die Umarmung enger, die Ochos kürzer werden mussten und schließlich als neues Element der Ocho cortado entstand. Die Bezeichnung Estilo Milonguero hält er für irreführend, treffender sei „Stil der 60er Jahre“.
Die anerkannte Milonguero-Lehrerin Ana Maria Schapira erläutert – ebenfalls im Glosario de Tango Danza –, dass Estilo Milonguero ein in den 40er Jahren geborener Gesellschaftstango ist, der sich durch eine enge Umarmung, Cadencia und eine besondere Kommunikation im Paar auszeichnet.
Getanzt wird im Apilado, d. h., die Oberkörper sind leicht aneinander gelehnt, wobei die Tänzer einander frontal gegenüberstehen und die beiden Körper von der Seite betrachtet ein ‚A’ bilden. Auf komplizierte, raumgreifende Figuren wird verzichtet. Man tanzt auf äußerst begrenztem Raum, entgegen dem Uhrzeigersinn und in Harmonie und mit Rücksicht auf andere Paare. Mit dem Milonguerostil assoziierte Orchester sind die von Carlos Di Sarli, Anibal Troilo, Juan D’Arienzo und Osvaldo Pugliese. Man spricht auch von Tango Apilado, Tango Club oder Tango Confiteria.
Wenn berühmte Experten wie Miguel Angel und Ana Maria so unterschiedliche Meinungen zu ein und demselben Phänomen haben, wundert es nicht, dass ein Laie sich nicht so ohne Weiteres zurechtfindet. Vielleicht hat Ricardo Viqueira recht, für den es nur einen einzigen Tango mit so vielen Gesichtern, Entwicklungen und Möglichkeiten gibt, dass er sich nicht gerne festlegen lässt. Auch die Prognose von Sebastian Arce aus der vergangenen Tangodanza mag zutreffend sein – demnach werden sich bald alle Stile aufheben und vermischen und es wird wieder nur einen Tango geben, der getanzt, gefühlt und genossen wird, um die Welt für Sekunden zu vergessen.
La Academia de Tango Milonguero von Susana Miller und Maria Plazaola
Geschichte:
Susana, die ‚Grande Dame’ des Milonguero, tanzt seit 25 Jahren und unterrichtet seit 1992. Seit 10 Jahren leitet sie mit Maria Plazaola, bekannt als Partnerin des legendären Milonguero Carlos Gavito, ihre Schule mit einem Team von motivierten Assistenten und Lehrern, die mit Susana und Maria unterrichten bzw. assistieren und die beiden während ihrer Auslandstourneen vertreten.
In ihren Anfängen unterrichtete Susana mit Osvaldo Zotto und Maria mit den Dinzels – beide offenen Tango. Doch was sie in der Milonga sahen, war etwas anderes, und bald machten sie es sich zur Aufgabe, genau das zu vermitteln.
Mit Cacho Dante tut Susana den ersten Schritt und lernt im Austausch mit ihm, was ein Milonguero aus dem Bauch heraus beim Tanzen macht. Sie beobachtet Milongueros wie Eduardo Aguirre und viele andere intensiv und erkennt die Prinzipien ihres Tanzes. Schmunzelnd erinnert sie sich an ihren Einfall von damals, Schülern mithilfe von Kissen das Wesentliche des Milonguero nahe zu bringen. In dieser Zeit entstand auch ihr Markenzeichen: Sie tanzt und unterrichtet die Männerrolle, ein damals noch gänzlich unbekanntes Phänomen bei Frauen.
Heftige Kritik schlug ihr entgegen: Milonguero könne man nicht unterrichten, das sei ein Gefühl. Doch sie ließ sich von ihrer Idee nicht abbringen und reiste vor etwa 16 Jahren zum ersten Mal mit Cacho und dem Milonguero-Stil ins Ausland. Zurück in Buenos Aires gründete sie ihre Schule, wo sie sieben Jahre gemeinsam mit Ana Maria Schapira unterrichtete. Mit Maria Plazaola, die aufgrund ihrer Erfahrung als Tänzerin die Struktur des Unterrichts der Academia maßgeblich beeinflusste, haben sich Rolle und Technik der Frau im Milonguero stark verändert. In der Szene gibt es wohl keine Schülerin, für die Maria nicht irgendwann einmal als Tänzerin Vorbild und Inspiration war.
Konzept:
Die Academia ist stolz auf ihr pädagogisches Konzept, durch das sie sich von anderen Lehrern unterscheiden möchte: Ausgangspunkt aller Bewegungen ist grundsätzlich die Musik. Schüler sollen lernen, sie mit ihrem Körper zu hören und vom ersten Tag an das Gefühl haben, zu tanzen. Musik wird rhythmisch interpretiert, wobei es zunächst darum geht, den einfachen Takt zu hören, dann Verdopplungen und dann beides im Tanz miteinander zu verbinden.
Die Base besteht nicht wie im Salón aus acht, sondern aus fünf Grundschritten. Es wird viel Wert auf organisches, natürliches Gehen gelegt und man vermittelt Tanzsequenzen. Ausgiebige Wiederholung dient dem Ziel, Bewegungen ins Unterbewusste gleiten zu lassen und so ein selbstvergessenes, intuitives Tanzen zu ermöglichen.
Susana und Maria definieren Estilo Milonguero als einen Gesellschaftstango, dessen choreografischer Reichtum sich aus der Musik und dem begrenzten Raum ergibt, denn diese Faktoren bestimmen, was in welchem Moment getanzt werden kann.
Unterricht:
Unterrichtet wird im Herzen von Congreso, in der Riobamba 416, an fünf Tagen der Woche. Dort findet anschließend auch die Milonga El Beso statt. Jede Unterrichtseinheit dauert zwei Stunden inklusive einer Pause von 15 Minuten.
Alle drei Niveaus beginnen mit Aufwärm- und Haltungsübungen, danach folgen Basiselemente und anschließend werden dem Schwierigkeitsgrad entsprechende Sequenzen erlernt. Männer und Frauen üben getrennt, erst wenn die Bewegungen ‚sitzen’, werden sie im Paar zusammengeführt. Eine Anmeldung mit einem Tanzpartner ist nicht erforderlich, üblicherweise werden im Unterricht die Partner immer wieder getauscht.
Neben dem regelmäßigen Unterrichtsprogramm gibt es einmonatige Seminare mit unterschiedlichen Themen: Frauentechnik mit Maria, Milonga mit Susana oder Workshops mit bekannten Milongueros, deren Termine auf der Homepage angekündigt werden. Darüber hinaus organisiert die Academia einmal pro Jahr ein Festival, das Encuentro de Tango Milonguero.
Der Gruppenunterricht kostet einzeln 20,– ARS und als Viererkarte 70,– ARS. Die Preise für Privatunterricht von Susana und Maria sind ebenso wie die ihrer Assistenten/Lehrer individuell vor Ort zu erfragen.
Fernando Lores und Gery Gluzman
Geschichte:
Fer und Gery sind seit sieben Jahren ein Paar. Sie repräsentieren eine junge, traditionell ausgerichtete Tänzergeneration der Milongas von Buenos Aires. Ihr Tanz ist musikalisch, klein, aber fein und voller Improvisation. Sie lernten sich in der Academia de Tango Milonguero kennen, wo sie kurze Zeit Schüler, dann Assistenten und Lehrer waren. 2005 haben sie mit ihrem eigenen Unterrichtskonzept einen anderen Weg eingeschlagen und nennen heute als ihre wichtigsten Lehrer den kürzlich verstorbenen Tete, Jorge Dispari und Maria del Carmen – auch ‚La Turca’ genannt und Mutter von Geraldine Paludi – sowie Alicia Pons, die ihnen in ihren Anfängen viel Unterstützung gegeben hat. Ihre größten Vorbilder im Tanz sind die o. g. Geraldine und Javier Rodriguez, bis 2006 die Shootingstars und das wohl inspirierendste junge Paar der damaligen Tangoszene.
Konzept:
Fer und Gery sind der Ansicht, dass man Tango nicht unterrichten kann, sondern andere nur dabei unterstützen, ihn sich selbst zu erarbeiten. Sie sehen sich als Wegbegleiter, um ihren Schülern alle Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie ihren eigenen Tango finden können. Als Lehrer möchten sie nicht kopiert werden, sondern ihre Schüler inspirieren und ihnen Tango als Tanz und Ausdruck einer Kultur möglichst individuell vermitteln.
Sie beschreiben ihren Stil als einen in enger Umarmung getanzten Gesellschaftstango, bei dem Musikalität, Emotionalität und Ästhetik wichtiger sind als Technik oder Bewegungsabläufe. Wichtig ist ihnen die Verbindung im Paar und dass im Tanz ein Dialog zwischen beiden Partnern stattfindet, in dem auch der Mann hört, was die Frau zu sagen hat, und ihr die Freiheit und Zeit lässt, Momente kreativ und musikalisch zu füllen.
Fer und Gery möchten ihren Schülern helfen, kreativ zu werden und mit eigenen Elementen eine Geschichte mit ihrem Körper zu erzählen. So haben sie es selbst von den Milongueros gelernt. Beim Tango geht es darum, Spaß zu haben und sich auf einer Tanzfläche harmonisch mit anderen Paaren, dem Partner und der Musik zu bewegen.
Ihr musikalisches Konzept ist nicht nur rhythmisch, sondern auch melodisch ausgelegt. Melodien kann man singen, erinnern, wiederholen und deshalb mit dem eigenen Körper abbilden. Bewegungen sollen daher widerspiegeln, was in der Musik geschieht, wodurch der Tanz immer lebendig bleibt.
Unterricht:
Der Unterricht findet mittwochs um 20:30 Uhr in Almagro im Tanzsaal des Tangohotels La Casa de Gerard statt und dauert eineinhalb Stunden ohne Pause. Der Gruppenunterricht kostet 25,– ARS, Ermäßigungen gibt es bei regelmäßiger Teilnahme. Einzelunterricht kostet in Argentinien 200,– ARS von Gery oder Fer und 300,–ARS, wenn beide unterrichten.
Ihr Unterricht setzt auf die Lernfähigkeit des Körpers, und so stehen das intuitive Erleben und die Sensibilität der Tänzer füreinander im Vordergrund, nicht technische Elemente und Erklärungen. Sie folgen beim Unterrichten auch keiner vorab festgelegten Struktur. So kann je nach Wunsch der Schüler das Thema ein Schritt, eine Figur, eine Sequenz oder Musikalität sein, aber Ausgangspunkt ist immer der aktuelle Entwicklungsstand der Teilnehmer.
Zweimal pro Jahr reisen Fer und Gery für mehrere Monate ins Ausland. In der Regel trifft man sie nur zu zweit an, sei es in Italien, Deutschland, Holland oder der Schweiz. Nur Ende dieses Jahres blieb Gery einmal zu Hause, denn sie hat noch eine andere Leidenschaft, die Anthropologie, in der sie Anfang 2011 promoviert.
Ob Fer und Gery den Rest ihres Lebens als Tangolehrer die Welt bereisen werden, das wissen sie heute noch nicht. Aber dass sie bis zum letzten Tag ihres Lebens miteinander in den Milongas von Buenos Aires tanzen und das damit verbundene Glück erleben wollen, daran zweifeln sie keine Sekunde. Und um das zu besiegeln, wird im Mai 2011 gefeiert, denn aus dem Tangopaar wird dann auch ein Ehepaar.
Ricardo Viqueira
Geschichte:
Bis 1995 war Ricardo Gastronom in der Milonga Sin Rumbo, und obwohl er einer Generation entstammt, die wenig Tango tanzte, wurde er schließlich doch mit dem Virus infiziert. Fünf Jahre später begann er zu unterrichten und seit 2002 reist er regelmäßig ins Ausland. Tangolehrer wollte er nie sein, aber es hat sich eben so ergeben, und nun ist er schon seit zehn Jahren mit vollem Engagement dabei.
Sein Einstieg war Salóntango, das Einzige, was es gab, als man noch nichts von verschiedenen Stilen wusste. In seiner Erinnerung war Milonguero eher eine Lebensform als ein Tanzstil: Man sagte, jemand sei Milonguero, wie man hinter vorgehaltener Hand flüstert, jemand sei Alkoholiker.
Sein Vorbild ist Tanguito Oliveto, der ehemalige Präsident des Sin Rumbo, der mit einem Repertoire von drei bis vier Figuren die Frauen zum Tanzen brachte, dass es eine wahre Wonne war. Ricardos Tanz ist ähnlich, von außen eher unspektakulär, aber innen musikalisch, dynamisch und voller überraschender Momente.
Konzept:
Da es für Ricardo nur einen Tango gibt, schreibt er sich Estilo Milonguero nicht gerne auf die Fahnen. Seinen Schülern bringt er bei, wie sie in einer Milonga mit argentinischen Platzverhältnissen einen ununterbrochenen Tango tanzen können, bei dem Mann und Frau auf ihrer eigenen Achse stehen und die Füße am Boden bleiben. Saubere Bewegungen möchte er vermitteln, auf die die Schüler aufbauen können und die sie gerne „verschmutzen“ dürfen, denn allzu korrektes Tanzen findet man in Argentinien eher blutleer.
Daneben geht es Ricardo um Eleganz, Musikalität und die so schwer zu definierende Cadencia. Eleganz zeigt sich im Gehen, sagt er, und in der Art, wie jemand über die Tanzfläche gleitet. Musikalität ist das Wissen, wann und wie Pausen, wie ein einfacher Takt oder ein Gegentakt getanzt werden. Doch erst wenn der Schüler sich der Bewegungsabläufe sicher ist, kann er denselben Schritt mit unterschiedlicher Energie und Musikalität tanzen, mal den Rhythmus, mal die Melodie und schließlich die Musik tänzerisch interpretieren und kreativ eigene Akzente setzen. Dann ist der Moment gekommen, an dem Mann und Frau wie Pianist und Piano im Tanz ihre eigene Musik komponieren.
Cadencia, der rhythmisch-melodische Energiefluss eines Tänzers, der von seinem Oberkörper ausgeht, macht für Ricardo den Unterschied zwischen guten und schlechten Tänzern aus. Er zeige sich nicht in den Füßen, sondern von der Taille aufwärts. In traditionellen Milongas, so Ricardo, sähe man oft Tänzer, die kaum ihre Füße bewegen und dennoch tanzen und ihrer Partnerin Hochgenuss bereiten. Genau das möchte Ricardo vermitteln.
Unterricht:
Tango, Vals oder Milonga-Unterricht gibt es dienstags von 20 bis 22 Uhr in Saavedra in der Avenida Ricardo Balbin 4699. Gleich danach findet die Milonga Imagen statt, in der es ebenso wie in Ricardos Unterricht locker und freundschaftlich zugeht.
Sein Angebot sieht er als eine Kombination aus Práctica und Unterricht ohne komplizierte Schrittkombinationen, da diese nach seiner Ansicht nicht milongatauglich sind. Intensiv und zugewandt widmet er sich jedem einzelnen Schüler und korrigiert individuell. Besonders am Herzen liegen ihm die Männer, deren ‚Regel Nr. 1’ besagt, dass sie für die Frau und nicht für die Zuschauer tanzen sollen. Entspanntes Tanzen im eigenen Raum ohne Vorwärts- oder Rückwärtsbewegungen, unabhängig vom Vordermann sein, im Kreis gehen können, wenn es aus Platzgründen nicht anders möglich ist, das sind wichtige Elemente aus dem Unterricht.
Die Gruppenstunde kostet 25,– ARS, Privatunterricht im In- und Ausland 80,– Euro. Tourt Ricardo gerade durch die Schweiz, Spanien, Frankreich oder Italien, vertritt ihn sein Sohn Martin, seit dem 13. Lebensjahr ein begnadeter Tänzer und inzwischen auch Lehrer.
Für Ricardo wie wohl für alle anderen Lehrer oder Tangobegeisterten ist dieser Tanz etwas, wovon man trotz aller Höhen und Tiefen einfach nicht loskommt. Und so schließen wir mit seinen Worten: „Tango ist eine Reise ohne Wiederkehr”.