Salon Canning - Zwei Tangowelten unter einem Dach

von Ute Neumaier, Buenos Aires, veröffentlicht in Tangodanza Nr. 49, Januar 2012  

Ein imposantes Gebäude von 1930 im Herzen von Palermo, ein weiß gestrichenes Portal, eine gläserne Schwingtür, ein endlos wirkender Gang mit schonungsloser Neonbeleuchtung. An den Wänden Tangofotografien und -gemälde und eine von Flyern überquellende Pinnwand. Am Eingang der in argentinischen Milongas übliche Tausch, Pesos gegen Eintrittszettel vom Abreißblock, und die Türen zu einer weltberühmten Milonga öffnen sich, deren Geschichte von griechischen Einwanderern, Poeten, Traditionen, Baggy-Pants, eleganten Tangueras und von zwei Veranstaltern erzählt, die unterschiedlicher nicht sein können.

In dem kolossalen, in warme Orangetöne getauchten Salon tummeln sich auf dem 100 m2 großen Parkettboden schon mal um die 90 Paare. An der Stirnwand eine monumentale Milonga-Collage, auf der Guillermo Monteleone alle Milongueras und Milongueros der Stadt, die jungen und alten Nachtgestalten, die Lebenskünstler, Bohemiens und Tangobesessenen, die sich hier allabendlich ihr Stelldichein geben, für immer festgehalten hat. Auf der Wand gegenüber ein Gemälde mit dem singenden Carlos Gardel und seinem ewigen Lächeln. An den Seitenwänden die Stars der internationalen Tangoszene stimmungsvoll im Großformat abgelichtet, begleitet von dem Surren vorsintflutlicher Ventilatoren.

Doch diese tangoträchtige Welt kannte einst ganz andere Zeiten. Von der gemeinnützigen Asociación Helenica de Socorros Mutuos erbaut, war der Salon Helenico ursprünglich nur für Veranstaltungen der griechischen Einwanderer gedacht. Als für den Bau eines Altersheimes Einkünfte fehlten, wurde er vermietet. So hielt vor mehr als vierzig Jahren der Tango seinen Einzug in das üppig mit griechischen Skulpturen und Gemälden dekorierte Ambiente. Er wurde Zeuge groß angelegter Modernisierungen, erlebte die Hochs und Tiefs eines gebeutelten Landes und hielt die Stellung sogar in den harten Jahren der Militärdiktatur von 1976 bis 1983.

Im Jahr 1980 begann der ‚El Gallego’¹ genannte spanische Einwanderer Darío Rodriguez, seine ersten Milongas zu organisieren. Seine Frau, die leidenschaftliche Milonguera und Porteña Adela, auch bekannt aus dem Film Tango, baile nuestro, hatte ihm keine andere Wahl gelassen. Aber Dario, durch und durch Geschäftsmann, zeigte Biss, und so veranstaltet er schon seit mehr als 30 Jahren Milongas. Und das, obwohl der konservative Spanier bis zum heutigen Tag keinen einzigen Tango getanzt hat. Mit sieben Milongas pro Woche hatte das Paar im Canning jahrelang eine Monopolstellung, seit dem Tod von Adela vor 14 Jahren ist Dario nur noch dreimal wöchentlich vor Ort, unterstützt von seiner Tochter Patricia. Die Frage, warum das Canning in der Zeit der Militärdiktatur niemals geschlossen werden musste, beantwortet er etwas unwirsch. Die Polizeistation läge eben direkt gegenüber, und man habe sich hier nie etwas zuschulden kommen lassen.² Dass weitere Fragen zu diesem für Argentinien so schmerzvollen Thema hier nicht angebracht sind, liegt auf der Hand.

Drei Wochentage im Canning übernahm kurz nach Adelas Tod der progressive Querdenker Omar Viola. Seit der Gründung seines Centro Paracultural im Jahr 1986 ist er eine Institution in der Subkultur von Buenos Aires und hat mit seinem Milonga-Label Tangogeschichte geschrieben. ‚Paracultural’, weil nach der letzten Militärdiktatur zwar die Rückkehr in die Demokratie offiziell vollzogen war, es aber immer noch Bereiche gab, die aus der Kultur ausgegrenzt wurden, u. a. der Tango. Allen Randerscheinungen aber fühlt sich Omar verpflichtet und will ihnen den Raum geben, der ihnen gebührt.

Tango ist ebenso eine politische Sache für ihn. Seit 2003 ist er Präsident der staatlich anerkannten Asociación de Organizadores de Milongas. Als bei einem Konzert im Cromañón 2004 fast 200 Jugendliche ums Leben kamen, weil Sicherheitsvorkehrungen nicht eingehalten wurden, kollabierte das kulturelle Leben in Buenos Aires. Unter Omars Federführung schlossen sich die Organisatoren zusammen, nahmen Gespräche mit der Stadt auf und – auch dank der Unterstützung eines Tango tanzenden Abgeordneten – konnten die Milongas bald wieder öffnen. Das Milonga-Gesetz ‚Código 2323/2007’ trägt seither dem Besonderen einer Tangoveranstaltung Rechnung und gibt den Milongas ebenso in der Rechtsgebung der Stadt ihren Platz. Doch auch über Landesgrenzen hinaus will der umtriebige Omar ein weltweites Tangonetzwerk fördern, weshalb im Paracultural nicht selten ausländische Tanzpaare auftreten. Buenos Aires soll erfahren, was sich in der internationalen Tangoszene tut, das sei wichtig und würde die Identität des Tango stärken, sagt er.

Omars Herz schlägt für den Tango, weil dieser mit den Menschen zu tun habe und sie in einer Zeit der zunehmenden Entfremdung verbinde. Tango, das seien die stillen Dialoge, deren Rohstoff die innige Umarmung ist, für ihn Rettung und Ausweg für die Gesellschaft, da sie Ideologien und Grenzen überwinde. Eine Milonga ist für Omar keine elitäre Tanzveranstaltung und auch kein Ort für Tänzer, sondern ein Raum der menschlichen Begegnungen, der Philosophie, Poesie und der wortlosen Dialoge.

Zwei Veranstalter unter einem Dach: Darío, der 80jährige, wortkarge, ruppige, aber im Kern gute Kaufmann aus Spanien, über den man kaum etwas weiß; und Omar, der 56 Jahre alte eloquente Schauspieler, Weltverbesserer, Poet und Philosoph italienisch-spanischer Abstammung, der in der Kulturszene bekannt ist wie ein bunter Hund. Und so unterschiedlich wie die beiden sind auch ihre Milongas.

Im Paracultural trifft man montags, dienstags und freitags eher die Jugend als ältere Jahrgänge, mehr Touristen als Porteños. Ob Auffordern mit Cabeceo oder durch den Gang an den Tisch ist jedem selbst überlassen. Es herrscht Freiheit und auch schon mal Chaos auf der Tanzfläche, weil die Jugend toben will und dafür Platz braucht, was Omar gelassen hinnimmt. Als Freidenker setzt er mehr auf Laissez-faire als auf Reglementierung und vertraut dem natürlichen Lernprozess, den jeder durchmacht, bis er sich auf einer vollen Tanzfläche sozialverträglich bewegen kann. Musikalisch gibt es vorwiegend Tango, nur ganz selten auf Wunsch eines Gasts eine Tanda Rock ’n roll. Die Tradition ist für Omar eine Quelle der Inspiration, ein Ausgangspunkt, den er durch die Gegenwart und die Zukunft erweitern möchte. Neue Entwicklungen heißt er willkommen, nichts soll ausgeschlossen werden. Einem unkonventionellen Event wie Tango Queer, bei dem Männer mit Männern und Frauen mit Frauen tanzen, gibt er seinen Raum. Die stets anwesenden Milongueros strafen ihn dann mit Blicken, als hätte er ‚ihren’ heiligen Tango mit Füßen getreten. Selbst das bringt Omar nicht aus der Ruhe, denn lange nehmen sie es ihm nicht übel. Zu genau wissen sie, dass er den Tango liebt und verteidigt, eben auf seine Art.

Bei El Gallego im A puro Tango hingegen werden am Mittwoch, Samstag und Sonntag auf entspannte Weise Traditionen gelebt, ganz ohne die Tangohysterie der ‚Ultratradis’. Der Altersdurchschnitt liegt mit 45 bis 70 Jahren eindeutig über dem des Paracultural. Der Cabeceo ist wohl das einzige Muss. Raum sparendes Tanzen in enger Umarmung ist unumgänglich, weil die Tanzfläche im wahrsten Sinne des Wortes überquillt. Seit Jahren kommen die gleichen Gäste, die sog. ‚Habitués’, und nehmen an ihren festen Tischen Platz. Sie tanzen ihr ganzes Leben lang, ohne dabei jemals Perfektion, Ruhm oder Reichtum gesucht zu haben. Sie wollen sich tanzend amüsieren, mehr nicht, ob Tango, Rock, Folklore oder Salsa spielt keine Rolle. Die Tangogemeinde ist eher lokal als international. Dennoch sind Fremde, unabhängig von Alter und Tanzniveau, gern gesehen und werden in die Milonga-Gemeinschaft aufgenommen. Manchem Gast macht die galoppierende Inflation im Land das Leben schwer und er kann sich das immer teurer werdende Tanzvergnügen nicht mehr leisten. Darüber sieht El Gallego stillschweigend hinweg: Wer hier einmal seinen festen Platz hat, ist auch mit leeren Taschen willkommen.

So unterschiedlich diese Tangowelten auch sein mögen, es gibt auch Berührungspunkte: Etwa eine Stunde nach der Eröffnung beginnen die Massen zu strömen, weshalb eine telefonische Tischreservierung zu empfehlen ist. Selbst wer früh kommt und einen noch leeren Salon vorfindet, kann seinen Tisch nicht frei wählen, denn das Platzieren der Gäste ist Sache des Maîtres. Einen Dresscode gibt es nicht wirklich, man trägt, was gefällt. Während sich im Paracultural jedoch Tänzer im Turnschuh- und Buggy-Pants-Look neben der elegant gestylten Tanguera auf der Piste tummeln, geht es bei Darío weniger kontrastreich und trendy zu. Hin und wieder erinnert nur ein betagter Tänzer, der selbst im argentinischen Sommer ohne eine Miene zu verziehen im Jackett tanzt, an frühere Zeiten und deren ungeschriebene Gesetze.

Unterricht gibt es vor der Milonga mit wechselnden Lehrern. Im Paracultural mit Gabriel Angió & Natalia Gómez, Julio Balmaceda & Corina de la Rosa, Javier Maldonado & Monica Parra sowie Ernesto Balmaceda & Stella Baez; im A puro Tango mit Daniel Juárez & Alejandra Armenti, Demián García, Frank Obregón & Jenny Gil. Und wer am Unterricht teilnimmt, darf hinterher umsonst in die Milonga.

Die Frage, ob er nach 14 Jahren nicht einmal etwas anderes machen wolle, verneint Omar mit Überzeugung. Klar, es sei nicht alles immer eitel Sonnenschein, das Nachtleben habe so seine Schattenseiten. Und es gebe Trauriges, Schmerzliches …  Dass die Milongueros, die Meister des einfach und dennoch individuell und musikalisch getanzten Tango, wie er ihn liebt, bald nicht mehr da sein werden und nur noch in unseren Herzen, unserer Erinnerung weiterleben. ‚Gavito’, ‚Pupi’, ‚Tete’, sie waren immer da, Abend für Abend. Er habe sie bis zum Schluss begleitet, und plötzlich war ihr Platz leer, berichtet Omar bewegt und kann dabei ein paar Tränen nicht zurückhalten. Aber was ihn tröstet und seine Begeisterung aufrecht hält ist dies: Wenn er am Abend durch das noch schlafende Buenos Aires fährt, den Salon betritt und diese tanzende Masse innig vereinter Menschen sieht, die verzückten Blickes selig über die Tanzfläche schweben, dann packt es ihn immer wieder aufs Neue und er sagt sich: „Wenn ich all das nicht kennen würde und es zum ersten Mal sähe, ich würde mich auf der Stelle unsterblich in dieses Schauspiel verlieben“.

Salón Canning Scalabrini Ortiz 1331

Paracultural: Montags und freitags mit Tanzauftritten, dienstags mit Orchester, 23 – 5 Uhr; Unterricht 19 – 21 und 21 – 23 Uhr; Reservierungen: Mobil: 1557383850, Festnetz: 48326753 (ab 18 Uhr); Eintritt: 30,- ARS, http://www.parakultural.com.ar

 A puro Tango: Mittwochs und sonntags, 16 – 1 Uhr, samstags (vorwiegend Paare) 23 – 4 Uhr; Unterricht mittwochs von 14:30 – 16 Uhr, sonntags von 16 – 18 Uhr und samstags von 18 bis 23 Uhr; Reservierungen unter: Festnetz 48326753, Mobil: 1536040714; Eintritt: 25,- ARS

 Jueves en Canning: Tel : 15-5945-1765/15-5737-2686, 21:30 – 3 Uhr

¹ = Galizier, der Spitzname der Spanier in Lateinamerika, weil die erste Einwanderungswelle von dort kam. Es ist in Argentinien gang und gäbe, Menschen Spitznamen zu geben, wie Negro (Schwarzer), Flaco (Dünner), Viejo (Alter), Gordo (Dicker),  die jedoch herzlich gemeint sind, weshalb niemand daran Anstoß nimmt.

² = Milongas wurden zwar in der Zeit der letzten Militärdiktatur von den Militärs nicht geschlossen, es wurde jedoch oft der Ausnahmezustand verhängt. Wer dann nach 22 Uhr mit mehr als einer Person auf der Straße war, konnte wegen des Versammlungsverbots verhaftet werden. Die Menschen hatten Angst, und so mussten manche Milongas wegen Mangel an Gästen schließen.