von Ute Neumaier, Buenos Aires, veröffentlicht in Tangodanza Nr. 44, Oktober 2010
Ein junger Mann allein in einer Milonga von Buenos Aires. Vor ihm auf dem Tisch ein Schild: „Please ask me to dance“.
Neugierig schaue ich hin. Ihn aufzufordern wage ich nicht. Andere schon. Die Tanzfläche ist für argentinische Verhältnisse mäßig voll. Ein paar Ungeübte schaffen es dennoch, anderen in die Quere zu kommen. Er nicht. Blond, hoch aufgeschossen ist er nicht zu übersehen, auch ohne Schild, und das, obwohl er selbst niemanden sieht. Denn, so weiß ich inzwischen: Der junge Tänzer ist blind. Seine Partnerin im Arm, den Blick in unbestimmte Ferne gerichtet, gleitet er mit schlafwandlerischer Sicherheit übers Parkett, macht einen Schritt nach vorn, einen zur Seite, dreht, weicht aus, als hätte er überall Augen.
Wir treffen uns zum Gespräch in einem Café. Von Weitem erkenne ich ihn an seinem Blindenstock und sehe, wie er sich behänd durch die Straßen einer Stadt bewegt, die schon Sehende zum Stolpern bringt.
Andrew ist 21, Amerikaner und tanzt seit zwei Jahren Tango.
Seit drei Jahren ist er blind. Defekte Sehnerven aufgrund einer Diabetes-Erkrankung seiner Mutter während der Schwangerschaft. Bis 16 fährt er noch Auto; mit 18 innerhalb von vier Monaten absolute Dunkelheit, unwiderruflich. Es braucht etwas, bis er sich an diese lichtlose Welt gewöhnt hat. Aber das Leben geht weiter, sagt Andrew, immer, egal, was ist.
Nach nur acht Monaten Tangounterricht besucht er seine erste Milonga. Seine Lehrer wollen ihn auf der Tanzfläche schützen und vor ihm hertanzen. Andrew will alleine zurechtkommen. Angst haben nur die anderen – völlig grundlos, wie sich zeigt.
Der Tango gibt ihm etwas Lebensnotwendiges zurück: Verbundensein mit anderen. Er sucht die Harmonie mit denen, die er nicht sieht, nur spürt; und konzentriert sich dabei nicht auf sich, sondern auf die anderen.
Er nimmt wahr, wofür Sehende blind sind: Wenn Menschen sich bewegen, verändert sich das Energiefeld, das sie umgibt. Musik produziert Schwingungen, die den Körper eines Tänzers umhüllen und mit der Bewegung variieren. Das spürt Andrew genauso wie die zu- oder abnehmende Körperwärme, je nachdem, ob ein Tänzer sich nähert oder entfernt. Was für andere die Augen sind, das ist für ihn sein Geruchssinn, sein Gehör und seine Sensibilität. All das hat er in drei Jahren gelernt? Er hat eben immer viel Glück im Leben gehabt, sagt er.
Nach einem Jahr Tango seine erste Reise als Blinder ins elektrisierende Chaos von Buenos Aires. Gleich fühlt er sich zu Hause, nicht nur wegen des Tango. Die Menschen mag er. Sie haben weniger Angst, sehen die Dinge positiver als in seiner Heimat.
Das ist wichtig für ihn. Den praktischen Umgang mit seiner Behinderung hat er schnell in der Blindenschule gelernt: mit dem Stock gehen, kochen, Gemüse schneiden, den Umgang mit der Software für Blinde. Schwieriger ist das Emotionale. Der Lebenshunger ist groß, trotzdem rutscht er leichter als früher in die Traurigkeit ab. Dann fühlt er sich abgeschnitten, isoliert. Wer sieht, so Andrew, schließt sich anderen unbemerkt an, ist Teil einer sehenden Gemeinschaft. Ein Blinder muss andere Wege finden.
Deshalb Tango. Im Tanzen findet er für Momente aus seiner blinden Individualität heraus. Mehr als für andere ist das für ihn ein Weg sich auszudrücken, zu transzendieren, Kontakt herzustellen. In der Milonga erlebt er außerdem ein starkes, nicht erklärbares Gefühl von Zugehörigkeit. Vor allem im tango social, den man im Einklang mit allen Paaren auf der Tanzfläche tanzt.
Am liebsten geht er ins überfüllte, traditionelle Cachirulo, weil er dort nur kleine Schritte machen darf und nicht so unter Druck steht, interessant tanzen zu müssen. Seine Partnerinnen sieht er dabei nicht und erfährt doch eine Menge über sie: Wie offen oder verschlossen sie sind, ob sie genießen oder tanzen, um gesehen zu werden.
Angst hat Andrew keine, auch vor Buenos Aires nicht. Gefahr gibt es immer. Wenn ihn jemand verletzt, selbst wenn er sterben muss, geht es weiter. Das Leben ist für ihn nie zu Ende. Er hat seinen Glauben, und der gibt ihm diese Sicherheit. Einmal wurde er früh am Morgen auf der Corrientes von zwei Männern überfallen. Er hört ein Messer klicken und Stimmengewirr. Als ihn einer von hinten an die Schulter fasst, dreht er sich blitzschnell um und schlägt mit dem zusammengeklappten Blindenstock zu – und trifft. Ob er blind ist, fragt ihn der andere. Andrew verneint, das hat er im Selbstverteidigungskurs für Blinde gelernt. Die beiden bekommen Angst und laufen davon. Er ist unversehrt und stolz; er hat sich getraut und es geschafft, sich zu verteidigen. Immerhin bin ich blind, sagt er.
Wir verabreden uns für den nächsten Tag in der Milonga. Ich bin gespannt. Den Weg vorbei an den Tischen findet er alleine nicht, ich nehme ihn an der Hand. Als die Musik beginnt, umarmt er mich, und mit jedem Schritt löst sich meine Anspannung. Wir bewegen uns vollkommen im Einklang mit der Musik – er tanzt como los Dioses, wie man in Argentinien sagt. Ich schließe die Augen und vergesse, dass er mich blind durch die Masse der Tänzer führt. Ich fühle, dass er mehr sieht als all die Sehenden um uns.