Tango Solidario - hier und dort

Buenos Aires, veröffentlicht in Tango Global, Band 2, April 2016          

Daniel (3) sitzt an dem großen Tisch in der Wohnküche des Kinderheims. Die Ärmchen verschränkt, schaut er mit großen, traurigen Augen in die Welt, in die neue Umgebung, die jetzt sein Zuhause sein soll. Seit gestern erst ist er in dem Heim. Er weiß nicht, warum er nicht mehr bei seiner Familie sein kann. Die Mitarbeiter des Jugendamtes hatten gute Gründe, ihn da nicht länger zu lassen. Denn roher Gewalt war er ausgesetzt und sexuellem Missbrauch. So sehr hatte man dem Kleinkind zugesetzt, dass es erst einmal eine Woche lang im Krankenhaus behandelt werden musste, bevor es ins Heim konnte. Und nun ist Daniel hier, an einem für ihn fremden Ort, in einem Heim mit 30 anderen Kindern, die er nicht kennt.

Daniel ist eines von zahllosen Not leidenden argentinischen Kindern. Dass sie Zuflucht in einem Heim finden, wo sie nicht nur ein Dach über dem Kopf haben, sondern ihnen auch Zuwendung, Respekt und schließlich auch eine Ausbildung zuteilwird, verdanken sie u.a. Tangotänzern aus aller Welt.

Tango Solidario in Buenos Aires

Das Kinderheim, in dem Daniel jetzt lebt, ist eine von drei Einrichtungen, etwa 30 km vom Stadtzentrum von Buenos Aires entfernt, die von der Initiative „Tango Solidario“ unterstützt werden. Die Tangoszene von Buenos Aires ist nämlich nicht nur eine Welt der Musik und eines einzigartigen Tanzes, der Menschen so viele Glücksmomente beschert. Sie ist auch eine Welt der Solidarität, des Mitempfindens und der Hilfsbereitschaft. Denn der argentinische Staat unterstützt Hilfsbedürftige, wenn überhaupt, nur in äußerst geringem Maße. Da, wo staatliche Hilfe ausbleibt oder nicht ausreicht, springen die Tangotänzer mit einer wunderbaren Erfindung ein: den Benefiz-Milongas.

Die Initiative JugarxJugarSolidariamente von Hugo Maffi etwa hat es sich zur Aufgabe gemacht, auch über die Tangoszene hinaus auf solche Heime, Schulen und soziale Projekte aufmerksam zu machen, die der Hilfe am dringendsten bedürfen. Interessierte können dann wählen, welche Einrichtung sie unterstützen wollen und auf welche Art.

Darüber hinaus laden Hugo Maffi und Maria Aragon allmonatlich, jeden zweiten Sonntag in Buenos Aires zu ihrer Milonga Solidaria ein, und engagieren sich so fortwährend für die gute Sache.

Die Initiative von Atilio Veron in der Milonga „La Nacional“, um ein drittes Beispiel zu nennen, verfolgt das gleiche Ziel: Geld zu sammeln, damit die nicht selten karge Lebensumgebung in den Heimen ein wenig besser gestaltet werden kann. Wenn sie schon die Not der Kinder nicht ändern können, so wollen die Tänzer doch einen Beitrag leisten, ihnen eine menschenwürdige Kindheit und eine Zukunft zu geben.

Tango Solidario über die Landesgrenzen hinaus

Nicht nur in Argentinien ist Tangotänzern die Verbesserung der Lebensumstände in Not geratener argentinischer Kinder ein Anliegen. So wurde in Australien im Jahr 2002 das Wohltätigkeitsprojekt der Stiftung Sociedad para los Niños gegründet. Damit entstand die Idee, ein weltweites Netz von Benefiz-Milongas zu flechten und mit deren Ertrag argentinische Kinderheime zu unterstützen.

An Argentinien etwas zurückgeben für die Freude, die sie durch den argentinischsten aller Tänze, den Tango, erfahren haben ‒ das war der Grundgedanke der Australier. Seitdem finden mehrere „Milongas para los Niños“ in verschiedenen Städten Australiens, Neuseelands und den USA statt. Bis nach Europa, u.a. nach Deutschland ist die Idee inzwischen getragen worden. Und in Passau luden Jürgen Schwenkglenks und seine Frau Magali zwei Mal zur Milonga para Los Niños ein.

Milonga Solidaria Deutschland

2012 wurde die Idee der Benefiz-Milongas von deutschen Tangotänzern aufgegriffen. Seitdem finden solche Veranstaltungen an vielen verschiedenen Orten mit leicht variiertem Konzept unter dem Namen Milonga Solidaria Deutschland statt. Mit ihren Spenden unterstützen die Tänzer nicht nur Heime für Kinder, sondern auch solche für Jugendliche. Innerhalb von vier Jahren entwickelte sich in Deutschland eine regelrechte Movida Tanguera Solidariamit derzeit zehn Veranstaltungen im Zeichen der Solidarität, seien es Milongas, Prácticas oder Flohmärkte in Darmstadt, Landau, Frankfurt, Rostock, Augsburg und jüngst auch in Kassel.

Lokale Tangolehrer, Tanzpaare und Tangueros unterstützen diese Veranstaltungen auf sehr phantasievolle Weise: durch Geldspenden natürlich, aber auch durch künstlerische Beiträge, durch den Verkauf gespendeter Biobrote, Getränke und Tangoschuhe, Fußball-Shirt-Verlosung u.v.a.m. Dank dieser Unterstützung kommen die Spenden ganz und gar, das heißt ohne jeglichen Abzug für Verwaltungsaufwand oder ähnliches, den drei von Tango Solidario Deutschland unterstützten Heimen in Argentinien zu Gute.

Hogar Los Horneros

Los Horneros ist eines dieser Heime. Bereits seit 14 Jahren spielt die Tangoszene für diese Einrichtung eine wichtige Rolle – und umgekehrt. Die Tänzer in Deutschland nehmen Anteil an den Lebensumständen der Kinder dort und den Fortschritten, die dank ihrer Spenden möglich werden. Und auch die Kinder und die Leiterin wissen, dass die Tangotänzer sie regelmäßig mit Spenden bedenken. Los Horneros ist eine kleine Farm in La Reja, die seinerzeit Elisa Jiménez gründete. Man darf bei dieser Gelegenheit ruhig mal erwähnen, dass die tatkräftige Frau für ihre Arbeit die Auszeichnung als „außergewöhnlichste Frau des Jahres 2012“ erhielt. Elisa ist eine agile Person. Sie hat acht Kinder, 24 Enkel und elf Großenkel. Seit knapp zwei Jahrzehnten setzt sie ihre Arbeitskraft für Mädchen ein, die in ihren Familien aus unterschiedlichen Gründen nicht bleiben können. In Los Horneros will Elisa ihnen Lebensfreude und Sicherheit geben und dafür sorgen, dass sie eine Ausbildung bekommen und eine Zukunft haben.

Zehn bis 15 Mädchen von drei bis zwölf Jahren sowie minderjährige Mütter mit ihren Säuglingen sind in Los Horneros untergebracht – und gehören zu Elisas großer Familie. Sie werden vom Jugendamt gebracht und dürfen bleiben, bis sie, was freilich meist nur eine theoretische Option ist, zu ihrer Herkunftsfamilie zurück können oder, was auch nicht allzu oft geschieht, adoptiert werden. Wer bleibt, muss mit Erreichen des 18. Lebensjahres das Heim verlassen. Das jedenfalls ist die offizielle Regelung. Freilich können dann noch nicht alle auf eigenen Beinen stehen. Deshalb hat Elisa vorgesorgt: Auf dem Gelände der Farm ließ sie kleine Holzhäuser bauen, in denen die Zöglinge bleiben können. Sie leisten ihren Beitrag zum Unterhalt, indem sie arbeiten. Die vertraute Gemeinschaft gibt ihnen so lange Sicherheit, bis sie in die Selbständigkeit entlassen werden können.

Wenn die Not zu groß ist, schlachten wir eins unserer Hühner

Eng wird es gelegentlich dennoch in Los Horneros, nicht nur räumlich, sondern vor allem finanziell. Elisa ist auch davon nicht zu entmutigen. „Wenn kein Geld für Essen da ist, schlachten wir eines unserer Hühner und kochen eine Suppe, die uns alle satt macht“, sagt sie. Zu ihren Lebenserfahrungen gehört, dass es immer irgendwie weitergeht.

Los Horneros ist zwar eine staatlich anerkannte Einrichtung, doch die Zuschüsse der öffentlichen Hand decken nur einen kleinen Teil dessen, was für den Erhalt des Heimes und den Unterhalt der Bewohner notwendig ist. Zum Überleben ist das Heim auf private Spenden angewiesen. Und diese kommen vor allem durch die Solidaritäts-Milongas. Deshalb ist Elisa dem Tango so dankbar. Denn ihm haben sie es zu verdanken, dass die Kinder nicht mehr in einer Hütte, sondern in einem richtigen Haus leben. Dass Elisa und ihre Töchter nicht mehr auf einer Feuerstelle am Boden kochen, sondern es einen Herd gibt und fließendes Wasser, Gas und ein sicheres Zuhause mit Fenstern und Öfen. All dies wurde erst durch die Unterstützung solidarischer Tangotänzer aus aller Welt möglich.

Hoffnung geben

„Die Mädchen haben schon einiges hinter sich, wenn sie zu uns kommen“, sagt Elisa, die selbst durch den frühen Tod ihrer Mutter als Kind lernen musste, auf der Straße zu überleben. Daher rührt auch ihre Motivation, ihren Schützlingen zu zeigen, dass man sein Leben verändern kann. „Doch das Straßenleben war damals nicht so hart wie heute“, erzählt sie, „vor allem gab es noch keine Drogen wie Paco2. Das ist eine wirklich schreckliche Sache, die die Menschen aus den Armutsvierteln in kürzester Zeit abhängig macht und sie, wie viele der Eltern dieser Kinder, völlig zerstört.“

Damit die Kinder auf das Leben vorbereitet sind und in der Gesellschaft einmal bestehen können, gehen sie zur Schule, erlernen aber auch praktische Fähigkeiten, wie Gemüseanbau und Umgang mit Pflanzen. All dies und etwas, das sich auch Elisa nicht erklären kann, bewirkt in den Mädchen Veränderungen, die selbst Psychologen sprachlos machen. Elisa verhilft ihren Schützlingen mit ihren Töchtern zu neuen, positiven Erfahrungen, gibt ihnen Liebe und ein Zuhause und nimmt eine große Last von den jungen Seelen.

Elisa glaubt an die Menschen, an das Leben, und dafür kämpft sie. „Ich habe immer von einer besseren Welt geträumt“, erzählt sie, „aber die entsteht nicht einfach so. Es gibt sie nur, wenn ich sie selbst zusammen mit anderen erschaffe.“ Das tut sie Tag für Tag, indem sie ihre Wohltätigkeitsarbeit zur gemeinsamen Sache ihrer ganzen Familie gemacht hat und trotz aller Schwierigkeiten, Krisen und finanziellen Engpässe immer weiterführt.

Hilfe zur Selbsthilfe

Das Ziel der Hilfsaktionen des Tango Solidario ist nicht nur die Bereitstellung von Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung, Bildung, Ausbildung und psychologische Betreuung, sondern auch langfristige Hilfe zur Selbsthilfe. So wurde mit den Spenden in Los Horneros der Bau des sog. Salon Multi-Uso finanziert, ein Nebengebäude, in dem das Heim Veranstaltungen anbietet, selbst hergestellte Keramik-, Leder- oder Stoffarbeiten oder die Pflanzen aus dem eigenen Gewächshaus verkauft und sich auf diese Weise zum Lebensunterhalt etwas dazuverdient.

Hogar Siand

Das Heim Hogar Siand liegt etwa 20 Minuten von Los Horneros entfernt. Der Tango hat hier von Anbeginn eine besondere Rolle gespielt. Weil es die Tangotänzerin Mónica Martinez war, die es im Jahr 2005 gemeinsam mit Alicia Hernández gegründet hat. Auch diese Einrichtung ist staatlich anerkannt und bezuschusst, wenn auch nur in geringem Umfang. Der Alltag ist auch hier meist beschwerlich. Alicia berichtet: „Die Hilfen kommen oft mit großer Verspätung, und wir haben immer wieder Schulden. Glücklicherweise lässt man uns mit der Bezahlung des Schulbusses dann etwas Zeit und auch bei der Begleichung des Honorars für die psychologische Betreuung, die ärztliche Versorgung oder die Schulgebühren der Kinder.“ Alicia betreut derzeit 30 Kinder zwischen 2 Wochen und 13 Jahren rund um die Uhr. Der Staat hat sie alle geschickt, auch wenn er Zuschüsse lediglich für die 13 Kinder zahlt, für die das Heim offiziell zugelassen ist.

Ein Traum, der sich wohl kaum erfüllen wird

Die Kinder kommen auf Anweisung eines Jugendrichters, wurden auf der Straße aufgegriffen oder mussten zu ihrem Schutz und Überleben ihren Familien weggenommen werden. Sie haben nahezu alle Entwicklungsstörungen – soziale, emotionale und geistige. Ihre Herkunft unterscheidet sich nur unwesentlich, stammen sie doch alle von drogenabhängigen, kriminellen, gewalttätigen, seelisch kranken oder obdachlosen Eltern ab, die unfähig sind, Verantwortung für sich und ihre Kinder zu übernehmen, sie schutzlos sich selbst überlassen oder ihnen Gewalt antun.

Das gilt auch für die beiden HIV-kranken Schwestern Ana und Maria. Ihre Mutter, eine Prostituierte, ist an HIV erkrankt, ihr Vater der Zuhälter. Um die medizinische Versorgung ihrer beiden Töchter hat sie sich nicht gekümmert. Schließlich nahm das Jugendamt ihr die Kinder weg. „In den ersten Tage saßen sie verängstigt in einer Ecke“, erzählt Alicia, „sie haben kein Wort gesprochen.“

Die beiden Mädchen sind nicht die einzigen Sorgenkinder. Da sind noch Mario und seine zwei Brüder. Sie verstehen nicht, warum sie in Hogar Siand sind und ihre drei Schwestern in einem anderen Heim, in Los Horneros. Das Jugendamt hat sie getrennt. Für die Geschwister ist es, als reiche das erfahrene Leid noch nicht aus. Doch Mario träumt davon, dass sie eines Tages alle wieder beisammen sein werden, bei ihren Eltern. Ein Traum, der sich kaum erfüllen wird.

Vor ihrer Ankunft in Hogar Siand lebten viele der Kinder auf der Straße. „Ihr Tag begann mit Betteln und dem Ergattern von Nahrung, bei dem sie viel Erfindungsreichtum entwickeln oder oft einfach stehlen mussten“, erklärt Alicia. „Nicht immer hatten sie Erfolg, blieben mit leerem Magen zurück, sodass sie in ihrer Verzweiflung und grenzenlosem Hunger auch Plastik, Schnur oder Erde aßen, um sich am Leben zu erhalten.“ Alicia braucht oft Stunden, um die verwahrlosten, physisch und psychisch misshandelten und nicht selten auch sexuell missbrauchten Kinder zu entlausen und zu waschen.

Der größte Schmerz: von den Eltern verlassen

Das größte Leid der Kinder ist, von den eigenen Eltern verlassen worden zu sein. Das mag besonders schwer wiegen in einem Land, in dem die Familie einen extrem großen Stellenwert hat. Um diesen Schmerz bewältigen zu können und zu lernen, mit ihrer Wut umzugehen und letztlich auch zu verzeihen, arbeitet Alicia eng mit Psychologen zusammen und versucht selbst, den Kindern neuen Mut mit dem christlichen Glauben zu geben. Nicht selten ist sie im Leben der Kinder die erste stabile Bezugsperson, der sie vertrauen, auf die sie sich verlassen können und die ihnen das gibt, was sie bislang nicht kannten: Geborgenheit, Respekt und Hoffnung, aber auch klare Regeln und Konsequenz ‒ und wenn es gar nicht anders geht, Hausarrest.

Sowohl schulische als auch praktische Ausbildung werden großgeschrieben. Die Kinder besuchen je nach Entwicklungsstand eine reguläre oder eine Sonderschule. Und sie lernen von Alicia, was ihnen weder ihre Familien noch die Straße beigebracht hat: Verhaltensnormen, Prinzipien und Werte. „Damit sie einmal im Leben und der Gesellschaft bestehen können, muss ich ihnen Halt geben, vor allem auch Grenzen setzen“, sagt Alicia. Deshalb ist sie streng, straft auch mal und verteilt vor allem Aufgaben und Pflichten. Die größeren Kinder zum Beispiel füttern die Babys. So lernen sie, ihren Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten, für andere zu sorgen und so etwas an die Gemeinschaft zurückzugeben.

Weil die Kinder so gut wie nie wieder zurück zu ihrer Ursprungsfamilie können, wünscht sich Alicia für ihre Schützlinge eigentlich nur eines: Dass sie adoptiert werden. Aber die Vermittlung ist schwer, bisweilen unmöglich, obwohl es durchaus interessierte Paare gibt. Oftmals, so Alicia, mangelt es an der Kooperationsbereitschaft entweder des Jugendamtes oder der Eltern, die sich zwar nicht um ihre Kinder kümmern, sie aber auch nicht zur Adoption freigeben. Also bleiben die Schutzbedürftigen im Heim. Oftmals bis zu ihrer Volljährigkeit. In einigen Fällen werden sie auch nach einem Jahr oder zwei wieder zurückgebracht, weil die neuen Eltern sich mit der Erziehung und Obhut der verständlicherweise nicht einfachen Kinder überfordert fühlten ‒ ein unendlicher Schmerz für die, die vorrübergehend glaubten, eine Familie zu haben.

Schwierige Verhältnisse

Zu Beginn war die Not in Hogar Siand groß und die Zukunft des Heims mehr als ungewiss. Es fehlte an allem. Man lebte von der Hand in den Mund. Alicia wusch die Wäsche für die damals 13 Kinder per Hand, das Wasser dafür erhitzte sie in einem Kochtopf. Bis eine Tangotänzerin aus Frankreich eine Industriewaschmaschine spendete.

Die Gelder aus den Solidaritäs-Milongas in aller Welt haben vieles Weitere ermöglicht: Zementboden wurde gelegt, getrennte Schlafzimmer und Bäder für Jungen und Mädchen installiert, die Küche vergrößert, der Garten begrünt und eine Veranda angebaut. Als 2010 ein Tornado das Dach wegriss, hatten sie dank der Spenden solidarischer Tangotänzer in Australien innerhalb von 14 Tagen wieder ein neues über dem Kopf. Und 2013 konnte dank Spenden ein Nebengebäude gebaut werden. Dort erlernen die oft lernbehinderten Kinder im Arbeitsraum ein praktisches Handwerk. Im dazugehörigen, neuen Musikraum können sie ihren traumatischen Erlebnissen, die sie oft nicht in Worten zu fassen vermögen, nun mittels Instrumenten einen Ausdruck geben. „So haben sie eine echte Chance“, sagt Alicia, „einerseits nicht wieder auf der Straße zu enden, weil sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können und andererseits ihr Leid zu verarbeiten, auch wenn sie darüber nicht reden können oder wollen.“

Hogar Casa de Teresa

Hogar Casa de Teresa liegt etwa 15 Minuten mit dem Auto von Hogar Siand und Los Horneros entfernt. Die Unterstützung dieses Heims und der derzeit dort lebenden elf Jungen ist seit 2014 das jüngste Projekt des Tango Solidario Deutschland.

Gegründet wurde dieses Heim 1983 von Teresa Gonzalez, einer alleinerziehenden Mutter von vier Kindern. Seit ihrem Tod 2009 führen es ihr Sohn, der Sportlehrer Leandro (38) und ihre Tochter, die Psychologin Fernanda (43) weiter. „An einem kalten Winterabend erlebte meine Mutter, wie in einem Zug Straßenkinder geschlagen wurden. Sie griff ein und brachte sie mit nach Hause. Erst waren es zwei, dann vier, schließlich sechs, und bald hatten wir eine Menge Geschwister“, erzählt Fernanda augenzwinkernd. Es war nicht immer leicht, die eigene Mutter mit so vielen Kindern zu teilen, aber so lernten wir von Anfang an, wie wichtig es ist, anderen zu helfen.“

Keine Aussicht auf Rückkehr zur Familie

Leandro ist der gesetzliche Vertreter der derzeit elf Kinder und Jugendlichen. Er geht neben seiner Arbeit im Heim zwei beruflichen Tätigkeiten nach. Was durchaus vorteilhaft ist: Herrscht mal Ebbe in der Haushaltskasse des Heimes, hilft er mit seinem Gehalt aus. Seine eigenen Kinder und seine Frau sehen ihn nicht so oft, wie sie es sich wünschen. Das ist die Kehrseite seines Engagements für die Kinder, die keine für sie sorgenden Eltern mehr haben. „Derzeit fühlen wir uns mit den Kindern im Heim nicht mehr so alleine. Dank des Tango Solidario werden wir nicht nur finanziell, sondern auch moralisch unterstützt“, sagt Leandro. Einen langen Atem zu haben, war die Überlebensstrategie für seine Mutter und danach für ihn und seine Schwester, kamen doch die staatlichen Zuschüsse für die Einrichtung erst nach 17 (!) Jahren.

Fragt man ihn, woher er die Kraft für seinen Einsatz nimmt, antwortet er: „Nur sehr wenige von diesen Jungen können zu ihren Familien zurück und ein normales Leben führen. Wo sollen sie denn hin?“.

Da sind die vier Fernandez-Brüder, zehn, elf, 13, und 15 Jahre alt. Vor sieben Jahren griff das Jugendamt sie auf der Straße auf und brachte sie zu Hogar Casa de Teresa. Nachdem ihre Mutter 2006 an HIV gestorben war, schickte ihr Vater sie zum Betteln auf die Straße. Guillermo, der Kleinste, kannte keine Toilette, kein Bad, keinen Abfalleimer, keine ruhige Nacht, in der er nicht Angst haben musste, dass man ihm im Schlaf seine Schuhe stiehlt. Als auch der Vater bald darauf an der Krankheit starb, kannte die Verzweiflung der vier Brüder kein Ende. Sie hält bis heute an. Die Angst, ihr Aufenthalt im Heim könne morgen vorbei sein, sodass sie wieder zurück auf die Straße müssen, ist ihre ständige Begleiterin.

Tausend Mal besser als ihr bisheriges Leben auf der Straße

Francisco (13) ist auf den ersten Blick ein rauer Kerl. Ständig macht er in der Schule Ärger. Wollte eine Familie ihn adoptieren, benahm er sich so unmöglich, dass er wieder zurückgebracht wurde. Vier Mal ging das schon so. „Sie phantasieren sich in eine Wunschpersönlichkeit hinein und tun oft so, als seien sie unverwundbar, als ginge ihnen nichts nahe“, erklärt Fernanda das Innenleben ihres Schützlings. „Das ist die pure Überlebensstrategie gegen nicht vorhandenes Selbstwertgefühl.“ Doch Fernanda kennt ihre Jungs. „Als ich vor ein paar Monaten mit Francisco Brot kaufen ging, trat er voller Wut an alles, was ihm begegnete. Und plötzlich schoss es aus ihm heraus: Warum hat mich meine Mutter denn auf die Welt gebracht, wenn sie mich nicht haben will? Das sind Momente, wo auch erfahrenen Pädagogen die Worte fehlen.

„Als die Leute von Tango Solidario zum ersten Mal zu uns kamen, waren sie schockiert angesichts der Lebensumstände im Heim, des schadhaften Dachs, der an allen Ecken und Enden sichtbaren Not. Aber was der bürgerlichen Gesellschaft unmenschlich erscheint, ist für diese Kinder tausendmal besser als ihr bisheriges schutzloses Leben“, kommentiert Leandro.

Zeigen, dass das Leben lebenswert ist

Kinder und Jugendliche in den Arm nehmen, sie beschützen und annehmen, damit sie erfahren, dass es ein anderes Leben gibt als geschlagen, misshandelt, missbraucht und verlassen zu werden. Ihnen zeigen, dass sie und das Leben einen Wert haben und ihnen Werte zu vermitteln, das ist das Ziel der Arbeit in Hogar Casa de Teresa.

Oft ist die Seelenlast, die die Kinder mitbringen, auch für die betreuenden Erwachsenen schwer zu schultern. Es dauert mitunter Jahre, bis es gelingt, ihnen etwas zu vermitteln, und der Erfolg ist nie gewiss. Es geschieht sogar, wenngleich selten, dass man sich von dem einen oder anderen Schutzbefohlenen trennen muss, wenn er nicht tragbar ist für die Gemeinschaft, weil er immer wieder Regeln ignoriert und Grenzen überschreitet.

„Doch wenn es am Ende auf der Welt nur zwei kriminelle Jugendliche, zwei drogenabhängige Kinder weniger gibt, hat das, was wir tun, einen Sinn“, sagt Fernanda. „Und wenn nur drei oder vier die Mittlere Reife machen und einen Beruf erlernen, Werte haben im Leben, hat sich das alles gelohnt“, fügt Leandro hinzu.

Bleiben dürfen sie, so schreibt es das Jugendamt vor, bis zum 18. Lebensjahr. Doch der Aufenthalt ist für die jungen Bewohner an Bedingungen geknüpft: Wer nicht zur Schule geht, keine Ausbildung macht oder nicht arbeitet, um zur Gemeinschaft beizutragen, muss gehen. „Ausbildung ist fundamental, um sein Leben zu verändern“, sagt Leandro.

Hilfe von allen Seiten

Hilfe erfahren Leandro und Fernanda nun, nach der Kargheit der Anfangszeit, dank der solidarischen Argentinier von vielen Seiten. Der Sozialarbeiter Hugo Bedecarras (45) unterstützt das Heim seit sechs Jahren ehrenamtlich, aus purer Menschlichkeit. Hugo tut der Schmerz anderer Menschen in der Seele weh, ganz besonders der von Kindern und Jugendlichen. Er sorgt dafür, wo es irgend möglich ist, den Kontakt zu den Herkunftsfamilien aufrechtzuerhalten, koordiniert die Besuche, kümmert sich um Belange wie Gesundheit, Besuche bei Gericht, um die Ausweise der Jungen und geht mit ihnen zur Schule, wenn es Probleme gibt. Und er spricht mit ihnen, Tag für Tag, und hört zu. „Wer sich nicht mit seiner Geschichte auseinandersetzen kann, wird die Muster seiner Kindheit wiederholen“, sagt er, „Deshalb ist das Gespräch so wichtig. Sie müssen erkennen und stark werden, um andere Arten der Beziehungen herstellen zu können und nicht in das zurückzufallen, was sie in ihrer Familie gelernt haben“.

Jede Freude der Jungen eine Errungenschaft

Und es gibt das Unternehmerehepaar Silvia Fleming (54) und Guillermo Arenas (57). Im April 2014 erfuhren sie über Hugo Maffis Solidaritätsverteiler von dem Heim. Seitdem engagieren sie sich ehrenamtlich, kommen mehrmals pro Woche und verbringen mindestens zwei Wochenenden pro Monat im Heim. Sie führen Gespräche mit dem Staat, mit Bauunternehmern, Architekten, Handwerkern, versuchen Leandro und Fernanda zu entlasten, wo es nur geht, besuchen mit den Jungen mal das Teatro Colon oder organisieren mit erstaunlicher Entschlossenheit einen Gratis-Besuch bei Cirque de Soleil.

„Als wir das erste Mal kamen und das Heim verließen, konnten wir 15 Minuten lang kein Wort sagen, so hat es uns die Sprache verschlagen und wir trafen die Entscheidung, uns hier einzubringen“, berichtet Silvia. „So vieles haben wir seitdem gelernt; etwa nicht so ungeduldig zu sein und zu wissen, dass jeder noch so kleine Triumph etwas Großes und selbst ein winziger Schritt nach vorne eine Veränderung ist. Und vor allem, dass jede Freude der Jungen eine Errungenschaft ist: ein Geschenk zum Geburtstag zu bekommen, mit allen einen Hot Dog zu essen. Für sie, die so etwas nicht kannten, hat es eine immense Bedeutung“, fügt Guillermo hinzu.

„Wir haben alle zusammen vieles erreicht. Die Situation ist heute besser. Die Jungen haben zu essen; es regnet nicht mehr durchs Dach. Aber es gibt noch viele Probleme, die angegangen werden müssen: Erziehung, Ausbildung, psychologische Hilfe, Computerkurse und Lernunterstützung. Die Jungs haben alle große Not,  Mangel und Vernachlässigung in ihrem jungen Leben erfahren. Es wurde ihnen praktisch nichts mitgegeben, man muss ihnen alles beibringen.

Hilfen vom Staat und dennoch fehlt es an vielem

Im zurückliegenden Jahr kam ein unerwarteter Geldsegen vom Staat und die Dankbarkeit von allen ist groß. Über den üblichen Ernährungszuschuss für die Zöglinge hinaus bekam das Heim noch eine große Summe für die Wiederherstellung des baufälligen Hauses. Das war ein Segen. Und seit eineinhalb Jahren kommt zusätzlich finanzielle Hilfe von den Milongas Solidarias in Argentinien und Deutschland. So haben die Jungen nun ein wirklich solides Zuhause.

In dem es freilich dennoch an vielem fehlt. Eine große Sorge der Pädagogen ist der fehlende Raum für die 18-jährigen Jungen, die das Heim verlassen müssen, aber noch nicht in der Lage sind, alleine zu leben. „Wenn sie auf unserem Gelände wohnen, arbeiten gehen und einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten könnten, bis sie mit der Unabhängigkeit und Verantwortung vertraut sind, wäre das ein großer Schritt nach vorne“, sagt Hugo Bedecarras.

Auch eine Nähmaschine und eine Person, die Kleidung ausbessern und umarbeiten kann, wäre eine sinnvolle Hilfe. „Wir bekommen viel Kleidung geschenkt, die aber oft kaputt ist. Wir brauchen die Kleiderspenden, weil die Jungs selten mehr mitbringen als das, was sie am Leibe tragen“, erklärt Hugo. „Könnten wir eine Näherin bezahlen, wäre es möglich, einen Teil der ausgebesserten Kleidung an andere Heime weiterzugeben, sie zu verkaufen oder zu tauschen. Ein sinnvolles Projekt wäre auch ein Salon Multi-Uso“, wie es ihn in Los Horneros schon gibt. So könnten wir auch selbst etwas dazu verdienen, Pizza backen und sie verkaufen, damit wir mehr auf eigenen Füßen stehen können.“ An Ideen zur Selbsthilfe mangelt es nicht, aber oft fehlt es einfach an den Mitteln für die Umsetzung.

Wertschätzung durch die Solidaritätsaktionen aus dem In- und Ausland

„Wir sind dankbar für die Spenden“, sagt Hugo. „Aber noch etwas anderes ist wichtig, gerade für die Jungen. Es geht nicht nur um das Geld, sondern auch um etwas unschätzbar Wertvolles, was dadurch entsteht. Es ist die Zuwendung der Spender, durch die diese verlassenen Kinder spüren, dass ihr Glück und ihre Zukunft anderen Menschen am Herzen liegen, in Argentinien, in Deutschland oder sonst wo auf der Welt.

Für einen wie José ist das besonders wichtig, erzählt Hugo und fährt fort: „Er ist 13 Jahre alt, kann weder lesen noch schreiben, weil er vor seinem Heimaufenthalt keine Schule besucht hat. Alle versuchen ihm zu helfen, sein Defizit aufzuholen, damit er weiter zur Schule gehen kann. Seine Freude zu erleben, weil er dieses Schuljahr nur ein Fach nicht bestanden hat, macht so vieles wett“.

Und Fernanda weiß bei allen Problemen auch von wunderschönen Momenten im Zusammenleben mit den Kindern zu berichten: „Als wir Silvester gefeiert, gemeinsam gegessen, das Feuerwerk angeschaut haben und uns wie eine große Familie fühlten.

Leandro fügt hinzu: „Unsere Ferien 2013 an Punta de Arena am Meer. Es war ein echter Kraftakt, das möglich zu machen, das Geld zusammenzukriegen, schließlich 400 Kilometer weit mit ihnen zu fahren. Und dann, am Ziel, die Freude in den Augen dieser Jungen zu sehen, das werde ich nie vergessen“.

Und dass es am anderen Ende der Welt, in Australien, Deutschland und Italien, Frankreich, in der Schweiz und den USA Menschen gibt, die sich um argentinische Kinder und Jugendliche sorgen, die Tango tanzen, um zu helfen –, das ist etwas, das alle Verantwortlichen der drei Heime oft sprachlos macht. Und ihnen Kraft für ihre Arbeit gibt und namenlose Dankbarkeit verursacht.

Infokasten:

„Reich wie ein Argentinier“

Argentinien gehörte Anfang des 20. Jahrhunderts zu den zehn reichsten Ländern der Erde. Ein geflügeltes Wort war „Reich wie ein Argentinier sein“. Das Land identifizierte sich nicht mit Lateinamerika, die Orientierung und der Maßstab für die eigene Existenz waren England und Frankreich. Buenos Aires wurde in einem Atemzug mit London und Paris genannt. Etwa mehr als ein Jahrhundert danach hat Argentinien den Ruf eines lateinamerikanischen Krisenlandes, wirtschaftlich durch Verschuldung, Wirtschafts- und Finanzkrisen und Korruption ruiniert.

Kluft zwischen Arm und Reich

Die jüngste Krise des Landes im Zeitraum 2001/2002 ging mit dem vollständigen Zusammenbruch der Wirtschaft einher. Das Land erholte sich während der ersten Jahrzehnte aufgrund der günstigen Rohstoffpreise im internationalen Markt. Dennoch leidet Argentinien nach wie vor an steigender Rezession und Arbeitslosigkeit und zunehmender Verarmung. Etwa 23 Prozent der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze und 8 Prozent unterhalb der Verelendungsgrenze. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer.

Elf Millionen Kinder unterhalb der Armutsgrenze

Diese Entwicklung spiegelt sich deutlich in der Situation von Kindern und Jugendlichen wider. Viele junge Menschen müssen sich auf die Suche nach einer Arbeitsmöglichkeit machen, noch ehe sie ihre Ausbildung beendet haben, um ihr Überleben sowie das ihrer Familien zu sichern. Etwa die Hälfte der 11 Millionen Kinder unter 14 Jahren lebt unterhalb des Existenzminimums. Etwa 1,5 Millionen argentinische Jugendliche leben auf der Straße und haben weder Ausbildung noch Arbeit. Die meisten von ihnen stammen aus Familien, in denen weder Vater noch Mutter jemals eine regelmäßig bezahlte Arbeitsstelle hatten.

Buenos Aires – Tango und 21 Elendsviertel

Buenos Aires, einst das „Paris Südamerikas“ und das Zentrum von Kunst, Kultur, Politik, Industrie und Handel, nach wie vor die Tango-Metropole schlechthin, ist in Bezug auf den einstigen Reichtum nicht, was es einmal war. Die Stadt und die umliegenden Vororte zählen derzeit 21 Villas Miserias3, deren Einwohnerzahl sich in den vergangenen 20 Jahren verdreifacht hat. Immer mehr Kinder und Jugendliche gehen auch in der Hauptstadt nicht zur Schule, landen auf der Straße und sind zunehmend physischer, psychischer und sexueller Gewalt ausgesetzt.

Tango Global ist erhältlich bei:

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Mehr Information: http://tango-a-la-carte.de/tango-buecher/tango-argentino-berlin-buch-trilogie/tango-berlin-band-2.