„Es geht darum, weiterzumachen“ - Javier Rodríguez & Virginia Pandolfi

von Ute Neumaier, Buenos Aires, veröffentlicht in Tangodanza Nr. 51, Juli 2012  

Javier Rodriguez (37) und Virginia Pandolfi (28) sind seit zwei Monaten ein Tanzpaar. Der Neubeginn war für beide vorbelastet: Bei Javier war es der tragische Unfalltod seiner Tanzpartnerin Andrea Missé im Januar 2012, bei Virginia die Trennung von ihrem Partner Fabián Peralta 2010. Der erste gemeinsame Auftritt der weltbekannten Tänzer rief viel Kritik hervor. Im Interview sprechen sie über die Höhen und Tiefen eines Tänzerlebens und darüber, wie aus zwei Tänzern eine Einheit wird.

Ihr habt beide Trennungen von euren Tanzpartnern durchlebt. Mir scheint es, dass es die Männer viel leichter haben, eine neue Partnerin zu finden.

Javier: Ihr Weg ist anders. Ein guter Tänzer kann sich eine Partnerin für seinen Tanz formen, das ist kein Problem. Für eine Tänzerin wie Virginia ist es schwieriger, denn sie braucht einen Partner, der besser oder gleich gut ist, und davon gibt es nicht viele ohne feste Partnerin.

Virginia: Oft tanzen Frauen nach Trennungen mit Tänzern auf einem niedrigeren Niveau weiter. Ich hatte in den zwei Jahren nach der Trennung verschiedene Tanzpartner, doch irgendwann wünschte ich mir eine kontinuierliche Zusammenarbeit. Aber es war gut, auf meinen eigenen Füßen zu stehen. Ich habe mich entwickelt und mir auch mit meinem Frauen-Festival Mujercitas bewiesen, dass ich etwas alleine auf die Beine stellen kann. Deshalb begegne ich heute Javier auf einer anderen Ebene.

Als ich dich mit Geraldin¹ und Virginia mit Fabián zum ersten Mal tanzen sah, erlebte ich das wie ein rauschendes Fest und konnte mir nicht vorstellen, dass ihr auch mit jemand anderem tanzen könntet. Vor Kurzem bei eurem Auftritt im Sunderland² hatte ich wieder so ein Gefühl. Gibt es zwischen Tanzpartnern, ähnlich wie zwischen Lebenspartnern, eine ganz besondere Chemie?

Javier: Dein Eindruck entstand, weil wir damals mit unseren Tanzpartnern eine wirkliche Einheit waren. Das Fest, das du im Sunderland erlebt hast, ist nur möglich, weil uns Dinge verbinden, die du im Tanz nicht siehst, die aber da sind. Es hat weniger mit Chemie zu tun als mit Gemeinsamkeiten: Virginia hatte jahrelang einen festen Tanzpartner und ich tanzte zehn Jahre mit Geraldin und sieben mit Andrea. Man kann mit jemandem tanzen, den man seit fünf Minuten kennt, dann geht es nur um das Tanzen. Aber ein Tanzpartner, ein Compañero, ist etwas anderes. Es ist die Person, mit der du auf Tournee gehst, im Hotel, im Zug, im Flugzeug sitzt, unterrichtest, durch die Welt reist und an irgendeinem Fleck der Erde, wo du keinen verstehst, bis zu 24 Stunden verbringst. Wir treffen uns nicht einfach im Tanzsaal, treten auf und gehen wieder. Wenn wir nur tanzen würden und nichts gemeinsam hätten, wäre unser Tanz schrecklich.

Wie habt ihr euch kennengelernt?

Virginia: Letztes Jahr waren Andrea, Javier und ich als Lehrer und Tänzer zu einem Festival in Chile eingeladen. Ich war alleine da, und so kamen wir uns auch als Menschen näher als sonst bei Festivals.

Javier: Andrea konnte aus privaten Gründen nur zu einem Teil des Festivals kommen und sagte zu mir: „Virginia ist doch da, sie ist zwar nicht deine Tanzpartnerin, aber eine Milonguera und kann mich vertreten.“

Was meinte sie damit?

Javier: Eine Milonguera lässt sich führen und stellt sich bedingungslos auf den Tanz des Mannes ein. Eine Tänzerin sucht die Perfektion, man muss proben; die Milonguera nicht, sie sucht die Einheit mit dem Mann. Ich wusste, dass Virginia intuitiv und aus dem Bauch tanzen und mich auch so im Unterricht begleiten wird.

Hast du sie deshalb als deine neue Tanzpartnerin ausgewählt?

Virginia: Es ist schon unglaublich, denn vor der Abreise aus Chile sagte Javier noch zu mir: „Schluss jetzt, such dir einen Partner und ich bereite ihn dir vor. Wir kriegen das zusammen hin.“

Javier: Ich hatte ihren Weg mit verfolgt und bewunderte sie wegen ihrer Entschlossenheit, konnte aber auch spüren, dass sie mit sich kämpfte, ihren Platz nicht fand. Ich wollte ihr klarmachen, dass ich an ihrer Seite stehe, sie unterstütze. Nach Andreas Tod gab es inmitten der Tränen und dem Schmerz etwas Unumstößliches in mir, das sagte: Virginia. Am Anfang erschrak ich: Andrea ist noch nicht lange gegangen und ich weiß schon, mit wem ich weiter tanze? Als ich Virginia anrief und ihr sagte, dass ich sie etwas fragen wollte, meinte sie unter Tränen: „Ich weiß, was du sagen wirst.“

Virginia: Es klingt grausam, doch ich wusste, warum er angerufen hatte. Aber freuen konnte ich mich nicht wirklich.

Es ist ja auch eine große Last auf deinen Schultern, eine gerade verstorbene Tänzerin zu ersetzen.

Javier: Als Andrea und ich 2005 miteinander zu tanzen begannen, wurde sie stark kritisiert. Sie konnte so gut sein, wie sie wollte, die Leute konnten nicht akzeptieren, dass Geraldin und ich nach so langer Zeit auseinandergingen. Aber Geraldin lebte und Andrea musste im Schatten einer der mystischsten Tänzerinnen aller Zeiten tanzen. Das war bitter für sie. Aber Andrea und ich haben uns nicht getrennt, sie ist aus dieser Welt gegangen und deshalb kann man Virginia nicht mehr mit ihr vergleichen.

Virginia: Als ich mit Fabián zu tanzen begann, verglich man mich mit Natacha Poberaj, mit der er 2006 die Weltmeisterschaft in Tango de Salón gewonnen hatte. Dann kam ich, eine Unbekannte aus Cordoba, und die Leute sagten: „Wer ist die denn?“ Das tat weh, aber heute ist es anders. Viele Menschen veröffentlichen Videos von Andrea und ich habe meinen absoluten Frieden damit.

Wie war eurer erstes Vortanzen?

Virginia: Das war beim Misterio Tangofestival in La Viruta, bei dem eigentlich Andrea und Javier auftreten sollten.

Javier: Es war sechs Wochen nach ihrem Tod, es war mein erster Tango danach und mir war wirklich nicht nach Tanzen zumute. Aber im Geist sprach Andrea zu mir: „Los, ab auf die Tanzfläche.“ Doch Virginia musste mit einem Lahmen tanzen. Denn Andrea war nicht einfach nur meine Tanzpartnerin, sie war mein Bein, mein Arm, ein Teil von mir. Ich merke in jedem Tango, dass ich noch nicht wieder vollständig bin.

Es gab viel Kritik zu diesem Auftritt.

Virginia: Die Organisatorin Moira Castellano erzählte eine berührende Geschichte über Andrea. Einige verstanden nicht, warum wir sie erwähnten und sagten, wir hätten ihren Namen benutzt.

Javier: Es war nur ein Ausdruck unseres Respekts. Aber egal, was ich getan hätte, es hätte Kritik hervorgerufen und Wunden aufgerissen. Wer uns kritisiert, weil wir so kurz nach ihrem Tod getanzt haben, hat nicht verstanden, dass es darum geht, weiterzumachen, egal, wie tragisch das Geschehene ist. Es ist schon komisch, ein Tango dauert drei Minuten, aber manchmal wird man deswegen fast schon gekreuzigt.

Virginia: Selbstverständlich klopfte uns niemand auf die Schultern und sagte “toll”. Aber manche hatten uns verstanden und meinten: „Hut ab, ihr seid mutig.“ Es war nicht leicht, aber meine Familie und meine Freunde waren dabei. Und Andrea – für mich, für uns, für alle.

Wie habt ihr diesen Auftritt vorbereitet?

Virginia: Gar nicht. Wir haben bis zum heutigen Tag drei Mal miteinander getanzt und kein einziges Mal geprobt.

Javier: Dann hätte es die Möglichkeit zum Irrtum gegeben. Aber wir trafen uns wie ein Milonguero und eine Milonguera erst auf der Tanzfläche. Wenn wir morgen einen Showauftritt hätten, würde ich sofort einen Übungsraum anmieten. Aber wenn ich bei Festivals tanze, bei denen Salóntango unterrichtet wird und vorher probe, lüge ich die Menschen an: Tango Salón ist Improvisation.

Virginia: Es hat auch mit Vertrauen zu tun, dass alles entstehen kann, alles erlaubt ist. Ob es dann einen Fehler im Tanz gibt, ist unerheblich. Außerdem ging es nicht darum, großartig zu tanzen, es ging nicht um uns.

Bald darauf habt ihr in der Türkei unterrichtet. Habt ihr euch darauf vorbereitet?

Javier: Ich stellte ihr ein paar Fragen, wie sie das Gehen, die Ochos unterrichtet, und es gab keine Widersprüche zu meinem Konzept. Dann schlug ich ihr vor, genauso zu unterrichten, wie wir tanzen: Ich mache einen Vorschlag und sie reagiert darauf und fügt das Ihre dazu. Es lief super.

Virginia: Unser Konzept vom Tango ist das Gleiche; was wir sagen, stimmt überein. Wie wir es sagen, ist unterschiedlich.

Geht es nur um Gemeinsamkeiten, damit zwei Tänzer zu einer Einheit werden können? Wie steht es mit tänzerischen Unterschieden?

Javier:  Die haben nicht die geringste Bedeutung für mich. Unser Tanz ist hinsichtlich seiner Milonguero-Essenz gleich, technisch gesehen nicht.

Virginia: Ich habe es ein bisschen anders erlebt. Wenn ein Paar sich findet, sagt der Mann oft: „Ich hätte gerne, dass du mehr Widerstand im Arm hast, den Kopf so hältst“, etc.

Javier: Das mag sein, aber ich möchte nichts vorgeben. Wenn wir miteinander tanzen, nehmen wir im Anderen viele Fehler wahr. Eigentlich sind es eher Unterschiede, der eine hat etwas zu wenig, der andere etwas zu viel, um perfekt zusammenzupassen. Aber wir sind beide Milongueros, wir haben die gleiche Wurzel, deshalb werden wir uns treffen, so oder so, es ist nur eine Frage der Zeit.

Wer hat euch zur Milonguera, zum Milonguero gemacht?

Virginia: Ich bin nicht nur Milonguera, sondern auch Tänzerin, das war ich schon in Cordoba. Ich tanze seit meinem vierten Lebensjahr, aber wenn ich einen Tango höre, bin ich Milonguera – und dazu wurde ich in den Milongas von Buenos Aires. Natürlich hat Fabián einen großen Beitrag dazu geleistet, er war mein wichtigster Lehrer, hat mich geformt und mir die Essenz ‚seines’ Tango vermittelt.

Javier: Mich haben viele Menschen geprägt: Mein Vater, tagsüber Taxifahrer, abends Tangolehrer, den ich in seinem Unterricht nur besuchte, um ihn öfter zu sehen, und so eine Beziehung zu dem mir damals verhassten Tango entwickelte. Mit 15 trat Geraldin in mein Leben und ich lernte von und mit ihr. Dann gab es Lehrer wie Jorge Dispari, Gloria und Eduardo Arquimbau, dann die, die mich nie unterrichteten, aber Vorbilder waren. Vor allem die Alten, die ihre Tangowelt, ihre Philosophie, ihre Erfahrung mit mir teilten: Gavito³, ‚Pupi’4 Castello, Tito Rocca, die Milongueros eben.

Was ist die Aufgabe der Frau, was die des Mannes, wenn ein Tanzpaar sich findet?

Javier: Der Mann muss seinen Stil haben. Dazu muss er gute Tänzer genau beobachten und entscheiden, ob er andere kopieren oder etwas Eigenes kreieren möchte, was natürlich länger dauert. Sein Tanz muss vor allem der Frau, den Frauen gefallen! Als Klon kann er seiner Partnerin nicht die erforderliche Sicherheit geben. Es geht aber darum, ihr stark gegenüberzutreten, mit seinem Stil, das heißt mit seiner Haltung, seiner Umarmung, seiner Art zu gehen, die Füße zu setzen und seiner Musikalität.

Ein Gavito hat mit allen Frauen seinen Stil getanzt. Die Frau hat keinen Stil, sie tanzt mit jedem Mann anders, das ist ihr Talent, ihre Freiheit. Mit der Zeit wird Virginia sich an meinen Tanz anpassen, ohne aufzuhören, sie selbst zu sein. Geraldin tanzt immer den Stil ihres jeweiligen Partners, Andrea tat das und Virginia ist genauso. Dennoch hat keine wie die andere getanzt, denn jede hat ihre Persönlichkeit, auch im Tanz.

Virginia: Die Male, die wir getanzt haben, sah es keine Sekunde wie bei Javier und Andrea oder bei Fabian und mir aus. Einer von Javiers Fans aus Korea fragte mich, ob ich mit Javier genauso tanze wie mit Fabián. Als ich bejahte, konnte er es nicht fassen. Aber es stimmt, ich umarme den Mann und lasse mich führen. Man muss nicht jemand anderes werden, man kann etwas Neues erschaffen, ohne die eigene Essenz aufzugeben. Das ist das Magische.

Wie lange dauert dieser Prozess?

Javier: Es ist wie bei einem Kuchen, in zehn Minuten ist er gerührt, aber die Backzeit ist viel länger. Zwei Tänzer finden sich schnell, aber bis sie wirklich ein Paar sind, gehe ich von fünf Jahren aus. Erst dann erlebt man, wie ein Tanzpaar abhebt und Flügel kriegt. Ich habe das zweimal erfahren, ich genieße den Prozess und will überhaupt nichts beschleunigen. Natürlich kann man jeden Tag viele Stunden proben, Choreografien einstudieren, nicht in die Milonga, sondern früh schlafen gehen. Aber das wäre nicht die hausgemachte Torte nach Großmutters Rezept.

Wolltet ihr den Tango jemals hinter euch lassen?

Javier: Mit Geraldin hatte ich alles: Ich war verheiratet, habe getanzt, und als das Kartenhaus zusammenbrach, stand ich mit leeren Händen da, die Beziehung, der Tanz, die Arbeit, alles war kaputt. Aber den Tango hinter mir lassen? Das habe ich niemals gedacht! Ich werde ihn nie leid sein, aber die Welt der Milonga schon. Da gibt es viel Neid, Falschheit, Oberflächlichkeit … Ich mag die Menschen, die den Tango lieben, denn wir teilen, wenn auch nicht die gleiche Kultur oder die gleiche Sprache, so doch eine Leidenschaft, wir leben im gleichen Universum und erfahren darin die gleichen Höhen und Tiefen – das verbindet uns.

Virginia: Ja, nach der Trennung wollte ich mit dem Tango aufhören und überlegte mir Alternativen. Aber eigentlich nicht, weil ich genug vom Tango hatte, sondern aus einem persönlichen Gefühl der Verzweiflung heraus. Aber lange hielt ich es nicht aus und spürte, dass der Tango zu meinem Leben gehört, dass ich tanzen muss.

Gibt es noch ungelebte Träume?

Javier: Auch mit Virginia zu einem legendären Tanzpaar zu werden, das Tänzer und Nichttänzer, auf der Bühne und in der Milonga inspiriert, ihr Herz berührt. Menschen durch unseren Tanz zum Träumen zu bringen, sodass sie sagen: Das will ich auch.

Virginia: Tango war erst ein Traum, dann wurde er zu meinem Leben. Ich habe Talent und damit eine Aufgabe, ich tanze und unterrichte leidenschaftlich gerne.  Aber ich träume auch von etwas anderem und manchmal hat der Tango es mir unmöglich gemacht, den anderen Lebenstraum zu verwirklichen.

Javier: Bevor Andrea gestorben ist, hat sie dich mit ihrem Mann und ihrem Kind besucht und dir damit gesagt: „Schau, ich habe einen Tanzpartner, einen Mann und ein Kind, all das kann man als Tänzerin haben, auch du.“ Deshalb hör auf zu denken, dass Tango und dein Leben als Mutter, Frau nicht vereinbar sind. Es ist möglich und ich werde dabei an deiner Seite sein und dich begleiten.

1 Geraldin Paludi, früher Rojas, Tochter von Marita ‚La Turca’, von 1995 bis 2005 die Tanz- und Lebenspartnerin von Javier, heute von Ezequiel Paludi
2 Sunderland Club, traditionelle Milonga-Legende in Villa Urquiza
3 Carlos Gavito, einer der berühmtesten Milongueros, Partner von Marcela Durán, Maria Plazaola, der einen unverwechselbaren Tanzstil hatte.
4 Pupi Castello, Ernesto Norberto Castello, weltberühmter Milonguero, ein Stück Tangogeschichte, Tanzpartner u. a. von Graciela Gonzalez (*2007)