Javier Di Ciriaco - Ein Interview mit dem Sänger des Sexteto Milonguero

von Ute Neumaier, Buenos Aires, veröffentlicht in Tangodanza Nr. 42, April 2010  

Das ‚Sexteto Milonguero’ ist ein junges Orchester aus Buenos Aires, das mit tanzbaren Tangos aufwartet, mit Tangos para milonguear. In kürzester Zeit hat es sich in Argentinien und auch international einen Namen gemacht. Ab Mitte April ist das Sexteto auf Tournee, unter anderem auch in Deutschland. Wer ein Konzert mit ihnen erlebt, wird es so schnell nicht vergessen: Die Energie und Spielfreude, mit der diese hervorragenden Musiker die klassischen Arrangements vortragen, ist einfach mitreißend. Tango – eine traurige Angelegenheit? Das ‚Sexteto Milonguero’ belehrt uns eines Besseren!

Javier, du hast das Sexteto vor gut drei Jahren gegründet. Wie kam es dazu?

Die Idee war, ein Orchester mit einem tanzbaren Repertoire zu gründen, das sich im Gegensatz zu den meisten anderen Orchestern gerade nicht einem einzigen Stil wie z. B. dem von Pugliese, Di Sarli oder D’Arienzo verschreibt. Wir wollen die Leute mit Tangos von unterschiedlichen Orchestern zum Tanzen bringen, Tangos, mit denen wir unsere Energie ausdrücken und vermitteln können. Ich habe die Vorarbeit geleistet, das Konzept erstellt und Tangos ausgewählt. So konnten wir zügig ans Proben gehen und als Orchester rasch zusammenwachsen. Die Musiker kannte ich fast alle aus meinem vorherigen Engagement im Orquesta de la Academia Nacional de Tango. Das war eine gute Ausgangsbasis. Unsere Geiger, Marisol und Mariano, und unsere Bandoneónspieler, Gervasio und Mauricio, waren schon befreundet, bevor sie zum Sexteto kamen. Das war auch ein Grund, warum ich sie ausgewählt habe. Die Idee hat funktioniert, wir ergänzen uns und harmonieren gut miteinander.

Kannst du uns das ‚Sexteto Milonguero’ kurz vorstellen?

Wir sind ein Sexteto típico, bestehend aus sechs Musikern und einem Sänger. Da sind die Geigenspieler Marisol Canessa und Mariano Laplume, Mauricio Jost und Diego Braconi am Bandoneón, Gervasio Ledesma am Piano und Cristian Sepúlveda spielt Kontrabass. Der siebte Mann, der Sänger, bin ich. Wir sind zwischen und 23 und 36 Jahre alt. Besonders stolz sind wir auf unseren Jüngsten, Mauricio. Er hat mit 13 Jahren seinen ersten Wettbewerb als Bandoneónspieler gewonnen. Cristian, unser Kontrabassist, hat eine klassische Ausbildung und ist Jazzmusiker. Er hat eine ganz eigene Art mit seinem Instrument umzugehen. Er setzt es rhythmisch ein, manchmal trommelt er fast darauf und gibt damit unseren Stücken eine ganz besondere Note. Gervasio kam als Letzter. Er ist klassischer Pianist, hat aber in kürzester Zeit unseren Stil adaptiert. Jeder von uns ist ein Individualist und hat einen anderen musikalischen Hintergrund: Klassik, Folklore, Jazz oder Rock. Es gibt Leute, die glauben, das Authentische geht verloren, wenn Musiker aus unterschiedlichen musikalischen Richtungen kommen. Wir haben das im Gegenteil immer als eine Bereicherung erlebt. Gervasio und Cristian bringen gerade durch ihre klassische Ausbildung etwas Sanftes, Harmonisierendes in unsere Tangos. Wenn wir auf der Bühne stehen, entsteht sehr viel Energie. Dann schaffen die beiden musikalisch einen ruhigen und sicheren Boden, auf dem wir anderen toben können.

Wenn man euch spielen sieht, bekommt man gute Laune – eure Spielfreude und Energie stecken an.

Ich habe ganz besonders auf den menschlichen Aspekt geachtet. Ich wollte nicht nur gute Musiker, sondern Menschen mit einer bestimmten Haltung, mit offenem Geist und der Bereitschaft, neue Wege zu gehen. Außerdem stimmt die Chemie zwischen uns, wir sind ein Team, uns verbindet Freundschaft. Das spürt man. Und, was genauso wichtig ist, wir tanzen alle Tango. Am Anfang tanzten nur zwei von uns, inzwischen hat es alle gepackt. Das hat unsere Sensibilität verändert, unsere Wahrnehmung und unseren Geschmack für Tangos. Wir fühlen und erleben Tango anders. Wenn wir auf der Bühne stehen und spielen, sind wir nicht nur Musiker, sondern auch Tänzer. Deshalb veranstalten wir manchmal so ein ‚Rambazamba’. (lacht)

Kürzlich habt ihr im Salon Canning gespielt und Fabián Peralta und Virginia Pandolfi haben dazu getanzt. Wie ist das für euch als Musiker?

Es ist ein sehr erhebendes Gefühl, wenn ich singe und Menschen dazu tanzen. Das ist wie eine Fusion, ein Gefühl von überfließender Energie … Es entsteht eine ganz neue Intensität. Wir sind stolz, dass immer mehr Tänzer zu unserer Musik tanzen wollen, obwohl es ja für sie die größere Herausforderung ist. Vor allem dann, wenn sie einer Choreografie folgen. Manchmal geben wir Konzerte, bei denen nicht getanzt wird, oder wir spielen in Theatern. Da geht es dann etwas gesitteter zu. Dafür haben wir die Freiheit Stücke zu spielen, die man nie in einer Milonga hört. Zum Beispiel im Salon Dorado del Ministerio de la Cultura, wo wir eine Zamba (argentinische Folklore) spielten. Wir erleben übrigens im Ausland die gleiche Begeisterung für den Tango wie in Argentinien. Die Menschen lieben Tango ebenso wie wir, sie freuen sich genauso, wenn sie zu einem Orchester tanzen können. Vielleicht ist die Art, diese Begeisterung auszudrücken, kulturell verschieden. Mal lauter, mal leiser, mal expressiver, mal verhaltener – aber das Gefühl ist das gleiche.

Wie hast du zum Tango gefunden?

Ich stamme aus Córdoba und fing mit zehn Jahren an, Gitarre zu spielen. Mit 13 trat ich als Gitarrist in eine Rockband ein. Erst mit 23 kam der Tango, und es fühlte sich sofort wie Heimat, wie ein neues Zuhause an. Es war eine sehr starke Begegnung. Mit 25 hatte ich das erste Engagement in einem Orchester aus Córdoba und blieb fünf Jahre. 2000 war ich mit dem Orchester auf Europatournee in Italien und Spanien und traf in Madrid Daniela, die dort lebte. Sie tanzte Tango und wollte nach Argentinien. Wir verliebten uns und beschlossen, an einen Ort zu ziehen, der für uns beide neu war: Buenos Aires. Die Stadt ist nach wie vor das Mekka für Künstler, ob Sänger, Musiker oder Tänzer. Alle Künstler aus dem Landesinnern siedeln irgendwann hierher. Auch für uns kam deshalb nur Buenos Aires infrage.

Wie war dein Start in Buenos Aires?

Die ersten vier Jahre waren hart. Ich war in Buenos Aires ein unbeschriebenes Blatt und es gab viel Konkurrenz. Es passierte erst mal absolut nichts. Die Herausforderung war, mir und meinen Träumen als Künstler treu zu bleiben und zu vertrauen, dass ich es schaffe. Und es war immer ein Spagat: Auf der einen Seite der Wunsch zu singen, auf der anderen Seite die Notwendigkeit, Geld zu verdienen. Ich bin meiner Familie und Daniela unheimlich dankbar. Sie haben mir sehr geholfen, weil sie mich ermutigten und unterstützten, meinen Weg weiterzugehen. Wir waren beide fremd in Buenos Aires, meine Familie war 600 km weit weg und die von Daniela Tausende von Kilometern. Das hat uns miteinander und mit allen verbunden, denen es ähnlich ging, mit allen Künstlern und Neustartern in dieser Stadt.

Wann kam der Durchbruch?

2008 begann man vom ‚Sexteto Milonguero’ zu sprechen. Wir hatten uns in den Milongas von Buenos Aires einen Namen gemacht. Sie sind es, die uns den Weg geebnet und die erste Chance gegeben haben. Das werden wir nie vergessen. Immer häufiger spielten wir in Milongas und wurden zunehmend auch für ausländische Touristen ein Begriff. Es hat sich dann wohl im Ausland herumgesprochen, wer wir sind und was wir machen, und so kam von dort bald die erste Einladung.

Du sagst, ihr seid ein Team. Wie sieht das konkret aus?

Es ist nicht so, dass ich der Manager bin und die anderen die Musiker, die spielen und wieder gehen. Wir sind alle gleichberechtigt, jeder trägt seinen Teil zur Entwicklung bei. Wir entscheiden gemeinsam, was und wie wir spielen. Es gibt keine ‚ersten’ und ‚zweiten Geiger’ oder Bandoneonisten, alle sind gleichrangig. Diego und Mauricio waren die Ersten, die Tangos neu arrangierten. Inzwischen machen das alle. Mauricio hat Piazzolla-Stücke von 1955/56 von dessen Orchester ‚El Desbande’ neu arrangiert. Die Milongueros rümpfen die Nase, wenn wir Piazzolla erwähnen. Aber wenn wir das spielen, tanzen sie. Wir haben es geschafft, nicht tanzbare Tangos in tanzbare zu verwandeln. An diesen Veränderungen ist jeder Musiker des Sextetos beteiligt.

Und organisatorisch?

Organisatorisch gesehen bin ich der Manager und Ansprechpartner für Medien und Veranstalter. Aber das bedeutet nicht, dass ich alles alleine mache. Delegieren ist sehr wichtig. Das Ergebnis ist besser und die Fehler sind geringer. Cristian ist das absolute Organisationstalent. Er trägt die Verantwortung für den Verkauf, den Versand und die Verwaltung unserer CDs, auch auf unseren Tourneen. Das ist eine große Entlastung für mich. Marisol und Mariano sind stark in die Organisation, Planung und die Logistik unserer Tourneen involviert.

Gab es auch kritische Momente für das Sexteto?

Nichts Dramatisches. Es gab eben belastende oder stressige Momente bei den ersten beiden Tourneen. Stelle dir nur vor, wir waren sieben Menschen, die einander unterschiedlich gut kannten und plötzlich nahezu 24 Stunden pro Tag zusammen waren. Und das in Ländern, deren Sprache wir nicht sprechen! Da gibt es Reibungen, Spannungen, Kontroversen. Aber das ist nichts Nennenswertes. Wenn wir am Abend auf der Bühne stehen, vereint uns die Musik, die Freude am Spielen und alles andere ist wie weggewischt.

Es ist außergewöhnlich, dass ein Tango-Orchester auch Folklore spielt. Bei den Konzerten entsteht dann eine ganz andere Energie und Atmosphäre.

Folklore dringt immer mehr in unser Repertoire ein. Wenn wir auf Tournee sind, geben wir nicht jeden Tag Konzerte. Es gibt freie Tage, an denen wir Zeit haben, um entspannt zu proben. Das ist ein guter Nährboden für Kreativität, Improvisation und neue Ideen. In Frankreich entstand an einem solchen Tag ein Quarteto. Das ist ein Folklorerhythmus aus Córdoba, ähnlich wie Merengue. Wir probierten das aus, allen gefiel es, es kam beim Publikum an und wir nahmen es in unser Repertoire auf. Mich persönlich bringen Tango und Folklore an verschiedene Orte, es entstehen in mir unterschiedliche Bilder. Man hat auch gesagt, mein Gesichtsausdruck ändere sich, wenn ich Folklore singe. Aber das nehme ich selbst nicht wahr. Daniela kannst du mir nicht helfen? Ich kann das nicht beschreiben.

Wir schmunzeln, weil er seine Frau, eine Ausländerin bittet, ihm bei der Beschreibung dieses feinen Unterschiedes zu helfen.

Daniela: Folklore beschreibt die Landschaft Argentiniens, die Liebe zum Land, zur Erde, der Pachamama und zur Familie. Tango ist urbaner, es geht um die Liebe zwischen Mann und Frau, zwischen Freunden, um Heute und Gestern, um die Stadt, um Buenos Aires. Wenn Javier Folklore singt, dann spüre ich deutlicher als im Tango seine enge Verbindung zu seinem Land, seiner Familie. Dann ist er bei seinen Wurzeln. Wenn er Tango singt, ist er in Buenos Aires.

Was war das Bewegendste für das Sexteto?

Zu sehen, dass wir unseren Traum und unsere Idee verwirklichen können. Es war ja am Anfang schon ein Überlebenskampf. Aber das ist alles verschwunden, wenn wir erleben, dass unsere Musik den Menschen gefällt. Dafür lebt man als Künstler. Auch unser eigenes Wachstum, unsere Entwicklung als Formation und die Aussicht auf viele noch zu realisierende Projekte macht uns glücklich.

Eure neue CD ist nun herausgekommen. Wie unterscheidet sie sich von der Ersten?

Wir nahmen unsere erste CD schon vier Monate nach der Gründung des Sextetos auf, denn wir brauchten sie, um uns als Orchester präsentieren zu können. Das war wichtig, hatte aber seinen Preis. Zweieinhalb Jahre später entstand nun die zweite CD mit dem Titel 7. Sie ist ausgereifter und qualitativ auf höherem Niveau. Wir sind als Orchester zusammengewachsen und haben unseren Stil verfeinert. Das hört man.

Die beiden CDs wurden auch in technischer Hinsicht unterschiedlich aufgenommen: Die erste entstand im Tonstudio mithilfe der modernen Aufnahmetechniken. Das bedeutet, dass immer nur ein Instrument aufgenommen und am Ende alle Instrumente zusammengemischt werden. Jeder Musiker ist dabei für sich. Das lässt viel Raum und Möglichkeit, Dinge im Nachhinein zu korrigieren. Verspielt sich ein Musiker, kann er es einfach noch mal wiederholen. Wir haben uns bei der zweiten CD dennoch dafür entschieden, sie traditionell aufzunehmen. Das heißt, wir spielten alle zusammen, genau wie bei einem Konzert. Die Energie, die Wärme und die Atmosphäre, die dabei entsteht, kann man auf der CD sehr genau hören. Es ist ein tolles Ergebnis, der Aufwand hat sich gelohnt. Neu ist auch, dass die CD wie ein Konzert, wie eine Milonga in Tandas aufgebaut ist. Und als Leckerbissen gibt es dieses Mal auch eine Folklore-Tanda mit zwei Chacareras und zwei Quartetos. Wir werden immer gefragt, warum wir Sexteto heißen, obwohl wir doch sieben Musiker sind. Und immer wieder erklären wir, dass der Sänger separat gezählt wird. In Griechenland machte ein Tänzer den Vorschlag, die CD 7 zu nennen. Ich fand die Idee gut.

Was habt ihr euch für die Zukunft vorgenommen?

Uns immer weiter zu entwickeln, nicht stillzustehen, immer neue Wege zu gehen. Tango ist derzeit nur in Buenos Aires wirklich präsent, obwohl er weltweit als die Musik von Argentinien gilt. Ich wünsche mir, dass Tango auf nationaler Ebene mehr Bedeutung bekommt und wieder so wichtig wird, wie er mal war. Überall in Argentinien. Nicht nur in den Städten, nicht nur in Buenos Aires, sondern auch auf dem Land. Tango soll wieder ein Volksgut werden. Ich wünsche mir, dass wir überall in Argentinien spielen können, sogar in den hintersten Winkeln des Landes. Gerne würden wir nächstes Jahr an dem nationalen Folklore-, Rock- und Quartett-Festival in Córdoba teilnehmen. Für unsere nächste CD haben wir uns vorgenommen, Tangos mit ganz eigenen Arrangements und Texten einzuspielen. Was mich betrifft: Mein persönlicher Traum ist es, nun, da er Erfolg gekommen ist, endlich wieder ledig zu sein, um ihn richtig zu genießen.

Wir stutzen kurz – und brechen dann alle in Lachen aus. Da war er mal wieder, dieser typisch argentinische Humor!