Tradition trifft Moderne - Auf der Suche nach dem Wesen des Tango

Interview von Ute Neumaier, Buenos Aires, veröffentlicht in Tangodanza Nr. 46, April 2011.

Der Tango ist in Bewegung. Wohin geht die Reise? Nach vielen Experimenten zur Erneuerung, nach Abgrenzung von und Rückbesinnung auf überlieferte Traditionen kreist die Debatte in jüngster Zeit vor allem um eine Frage: Wie kann sich der Tango zeitgemäß weiterentwickeln, ohne seine Essenz zu verlieren?

Drei, die unterschiedlicher nicht sein könnten, haben sich gemeinsam auf die Suche nach einer Antwort gemacht: Carlos Pérez und Rosa Forte, Urgesteine des Tango Salón, und der – inzwischen gezähmte – ‚junge Wilde’ Gabriel Glagovsky.

Carlos Pérez und Rosa Forte sind seit 53 Jahren ein Paar, leiten seit 1996 die Práctica im Club Sunderland in Buenos Aires, aus der die vergangenen sechs Weltmeister hervorgegangen sind. Trotz ihres großen Erfolgs sind sie bescheiden geblieben. Ihr Herz ist groß genug für alle jungen, talentierten, meist mittellosen Argentinier, die von einer Privatstunde mit ihnen nur träumen können und sie doch bekommen – unentgeltlich versteht sich. Denn ihre Mission ist, dem Tango das zurückzugeben, was sie von ihm bekommen haben.

Gabriel Glagovsky (38), einst Buchhalter, ist der Gründer von Tango Cool, einer erfolgreichen jungen Práctica im Club Villa Malcolm. Der ehemalige Rock’n Roller mutierte 1998 zum Tanguero und machte sich seither in der Szene als Idealist und ‚Enfant Terrible’ einen Namen. Überzeugt von sich und seinen Ideen, arbeitet er rastlos an vielen Projekten, deren wichtigstes es ist, den Austausch zwischen Tradition und Moderne im Tango voranzutreiben. Er sieht Tango als soziale Verantwortung und schützenswertes Kulturgut.

Ute Neumaier hat die drei zu ihrem spannenden gemeinsamen Projekt befragt.

Ihr kommt aus völlig unterschiedlichen Tangowelten. Wie habt ihr euch überhaupt kennen gelernt?

GABRIEL: Das war 2007, es war ein eher unglückliches Zusammentreffen. Ich sollte mit meiner damaligen Partnerin vortanzen, aber es ging einfach gar nichts. Schließlich gaben wir auf und es gab keine Show. Es war die Hölle! Alle Kollegen waren vertreten, alle Milongueros. Danach kam Carlos zu mir und sagte: „Mir gefällt, was du machst. Warum kommst du nicht und nimmst Unterricht bei mir?“ Er war der Einzige, der überhaupt etwas zu mir sagte.

ROSA: Ich war sauer auf ihn und fragte, warum er so was macht. Aber so ist er. Er kümmert sich um Menschen, die Talent haben, die ernsthaft sind und den Tango respektieren.

CARLOS: Wenn mir etwas gefällt, kann ich nicht anders. Es macht mich glücklich, Menschen etwas zu vermitteln und zu sehen, wie sie sich entwickeln. Manchmal ärgere ich mich über die, die das Zeug haben und es nicht nutzen oder vom Weg abkommen. Dann werde ich der strenge Lehrer, der ich sonst nicht bin.

Daraus entwickelte sich dann die Idee, eine Begegnung zwischen modernem und traditionellem Tango zu organisieren?

GABRIEL: Das dauerte schon noch ein bisschen. Erst mal ging ich zu Carlos und Rosa in die Práctica. Durch den Unterricht bei ihnen war ich in ständiger Auseinandersetzung mit beiden ‚Schulen’, und so entstand die Idee.

Im Mai 2010 fand dann unter dem Titel ‚Tango clasico – Tango moderno’ das TangoEtnia-Festival in Bassano del Grappa mit drei Paaren statt: Die Autoritäten des traditionellen Salóntango waren Carlos und Rosa, Silvia Rossato und ich die Vertreter des modernen Tango. Laura Meló und Ricky Barrios tanzen seit den 80er Jahren und repräsentierten die mittlere Generation. Es gab gemeinsamen und getrennten Unterricht, eine Práctica im Stil von Tango Cool und eine wie im Sunderland. In einem Vortrag mit Präsentation wurden Tänzer unterschiedlicher Stile und die Entwicklung des Tango gezeigt. Und auf der Piazza fand eine kostenlose Tanzveranstaltung für das ganze Dorf statt, um den Tango auch denen nahe zu bringen, die ihn noch nicht kannten.

Unser Ziel war, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken und aufzuzeigen, wie beides sich ergänzen kann, wie der Tango sich entwickeln kann, ohne seine Essenz zu verlieren. Es war eine Rückbesinnung auf das Ursprüngliche, den Gesellschaftstanz, die enge Umarmung – und das, nachdem ja eine ganz andere Entwicklung stattgefunden hatte. In einer Unterrichtseinheit ging es z. B. um das Tanzen in der Gemeinschaft auf einer dicht gefüllten Tanzfläche. Du glaubst nicht, was das am Abend in der Milonga für einen Unterschied machte. Es gab Männer, die weinten, so gerührt waren sie.

Was hat die Menschen so bewegt? Was war so besonders im Vergleich zu anderen Festivals?

CARLOS: Erst zweifelten die Leute, aber als sie uns zusammen erlebten, änderten sie ihre Meinung und das Eis brach. Das hat vielleicht damit zu tun, wie wir als Menschen sind, nicht nur als Lehrer oder Tänzer.

GABRIEL: Das Besondere waren Carlos und Rosa – sie gehen ans Herz, im Leben und im Tanz. Die Milongueros, die heute gefeiert werden, waren oft früher gar keine Größen, sie sind nur übrig geblieben. Aber Carlos war schon in frühen Jahren wer im Tango.

Carlos zeigt das Plakat von 1958, auf dem er angekündigt wird: „Carlitos und Partnerin“ – und klärt uns auf, dass es damals so üblich war, vom Tanzpaar nur den Mann namentlich zu nennen; die Frau war Nebensache.

Man spricht oft von berühmten Lehrern, von denen manche eher eine Katastrophe für die Schüler sind. Dann gibt es aber wunderbare Lehrer, die in der Tangoszene nicht in Sachen Marketing oder Trends unterwegs sind. Carlos und Rosa gehören dazu, sie geben tollen Unterricht, haben Erfolg und Tango ist für sie kein Geschäft, auch wenn sie damit Geld verdienen. Carlos unterrichtet aus Liebe, mit Leidenschaft und Idealismus, und das muss man bekannt machen.

Ihr tanzt aber ganz unterschiedlich. Was verbindet euch?

CARLOS: Ich sah Gabriel tanzen und sah mich als jungen Mann. Weit davon entfernt, einander ähnlich zu sein, stimmen wir dennoch in etwas überein. Seine Bewegungen sind die einer jungen Person, schnell, leicht und locker. Unsere sind schwerer, sparsamer, älter. Ich glaube, es ist seine Bewegungsqualität, die uns verbindet.

ROSA: Für mich ist es die Musikalität.

GABRIEL: Vielleicht die Ernsthaftigkeit, mit der wir uns dem Tango nähern? Der Tangolehrer ist ein Phänomen, das erst 1980 entstand. Davor waren das ein paar alte Leute, die keine große Anerkennung hatten, und noch früher waren sie nicht nötig, weil man sich Tango gegenseitig beibrachte. Wir stimmen aber auch im Unterricht überein, zum Beispiel darin, dass Führung nicht von der Brust ausgeht. Carlos hat 30 Jahre nicht getanzt und diese Mode mit der Führung aus der Brust nicht mitbekommen. Ich bin auch davon weggekommen. Der Körper des Paars hat vier Beine, es gibt ein gemeinsames Zentrum, und wenn man sich in Relation dazu bewegt, tut es der Partner auch, sonst würde er hinfallen.

Nun bin ich doch irritiert. Ich dachte auch immer, dass der Mann mit der Brust führt. Carlos, wie machst du das?

CARLOS: Mit dem Arm. Das mit der Brust führt leicht dazu, dass man sich hart macht oder die Frau an sich drückt. Es sollte für eine Frau kein Problem sein, vom Mann umarmt zu werden, sondern ein Genuss. Man muss im Tanz ein Kavalier sein. Kyoko, die Weltmeisterin 2009, sagte, ich hätte die beste Umarmung der Welt. Ich glaube, sie meinte einfach, dass es sich gut anfühlt, sanft ist.

ROSA: Er führt mit dem ganzen Körper, finde ich, alles an ihm führt mich.

Gabriel, ich kenne deinen Unterricht und den von Carlos und Rosa. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie man das zusammenführen kann, das ist doch ganz anders! Wie war das genau in Italien?

CARLOS: Da war noch vieles improvisiert, heute haben wir ein Konzept und es wird immer klarer, wie beide Unterrichtsstile sich gegenseitig ergänzen und bereichern.

GABRIEL: Ein Beispiel: Typisch für den Salóntango ist diese besondere erdverbundene Art zu gehen, im Spanischen sagt man: Caminar a tierra. Carlos erklärte das und ich ergänzte das mit einer Übung, die half, das erfahrbar zu machen. Carlos Erklärungen waren eben die von früher, sie waren bildhafter, praktischer, meine waren spielerischer, entsprachen dem, wie man heute Bewegungen erklärt. Aber beides führte zum gleichen Ergebnis und potenzierte sich.

ROSA: Gabriel verbindet ‚unseren’ Tango mit modernen Elementen, so war das auch in Italien. Er vermittelte die Energie, das Dynamische seines jungen Tanzes, wir das Ruhige, Sanfte unseres Tango, und die Schüler konnten von beidem profitieren und es in ihren Tanz integrieren.

CARLOS:  Abends sahen wir beim Tanzen, wo die Teilnehmer Korrekturen brauchten. Wenn wir ihnen die am nächsten Tag gaben, argumentierten wir aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven, aber wir kamen zum gleichen Ergebnis.

Gehen wir mal in der Zeit zurück. Wie hat dein Tangoleben angefangen, Gabriel?

GABRIEL: Das war 1998, ich begann u. a. mit Chiche & Marta, Fernando Galera & Vilma Vega, Julio Balmaceda & Corina de la Rosa, Eduardo Capussi & Mariana Flores. Erst später kam ich zum modernen Tango und einer anderen Lehrergeneration wie Damián Essel & Nancy Louzán, Chicho Frúmboli & Eugenia Parrilla, Fabián Salas & Carolina del Rivero, Gustavo Naveira & Giselle Anne. Vieles im Unterricht gefiel mir nicht: Grundschritt, Schrittkombinationen, Figuren. Ich hatte große Zweifel daran, denn es war in der Milonga nicht anwendbar.

Tango Nuevo entstand aus dem Versuch, Elemente des Bühnentango so zu verändern, dass sie milongafähig wurden. In den 80ern hatten Bühnentänzer wie Roberto Herrera und Vanina Bilous für ihre Shows neue Bewegungen erfunden, die in den 90ern von jungen Tänzern aufgegriffen wurden. Aber was dabei herauskam, überzeugte mich nicht, zu abgehoben.

Wir wollten damals den Tango mit neuen Elementen bereichern, aber keinen neuen Tango erfinden oder mit dem alten brechen. 2003 mietete ich mit einigen Leuten eine Halle zum Üben. Dabei waren Ismael Ludman, Mariela Pandelo, Felipe Slimovich, Mario de Camilis, Paula Ferrío, Pablo Kliksberg, Guillermo Cerneaz und Paula Rampini. Später organisierten wir Feste, zuerst nur für Freunde, dann für das ganze Jungvolk im Tango. Es kam gut an, denn es gab damals nur traditionelle Milongas mit älteren Leuten. Dann wurde die Halle wegen der Sicherheitsauflagen geschlossen und wir zogen ins Villa Malcolm.

Eure Tangobiografie, Rosa und Carlos, verlief dagegen ganz anders.

CARLOS: Ja, bei mir ging es mit zwölf Jahren los. Ich war der Jüngste, die Größeren nahmen mich mit. Ich war groß, wirkte älter und trug immer eine Krawatte. Die großen Milongueros, alle zehn bis 15 Jahre älter als ich, unterstützten mich: Gerardo Portalea, José Vásquez Lampazo, Eduardo Pareja ‚Parejita’, Mingo Canonico, Osvaldo Mossi ‚Nene Fo’, El Gallego, Alberto Villarrazo. Sie sagten: „Lach bloß nicht!“, denn das hätte mein Alter verraten. Was wurde um die Damen gebuhlt! Aber ich war keine Gefahr, ich war zu jung. Deshalb sagten sie sogar zu den Frauen, sie sollen mit mir tanzen. So lernte ich spielend und schnell.

ROSA: Ich war 17, mit 19 nahmen mich meine älteren Brüder mit in die Milonga. Meine Eltern wussten nichts davon. Erst als ich Carlos kennen lernte, erfuhren sie es und gaben mir Hausarrest. Nachdem wir verlobt waren, durfte ich wieder tanzen gehen, aber auch nur in Begleitung meiner Brüder.

CARLOS: Auch meine Eltern wollten nicht, dass ich mich in dieser halbseidenen Welt bewege. Die argentinischen Milongas waren nie ein gutes Ambiente, damals nicht und heute nicht. Es gab schräge Gestalten, gente de mal vivir. Damals ging es zu 90 Prozent um Frauen, zu zehn Prozent um Tanz. Heute ist die Tangowelt leider zu einem Geschäft geworden und das Geld steht im Vordergrund. Das macht vieles kaputt. Aber von alledem wusste ich damals nichts, ich ging mit großer Begeisterung circa 21 Mal pro Woche tanzen. Ungefähr dreimal pro Tag (lacht). Denn als Tänzer hatte man mehr Chancen bei den Frauen als ein Kinostar.

ROSA: Ich ging nicht so oft tanzen und habe nicht alle Milongas kennen gelernt, in manche ging er lieber alleine.

CARLOS: Ja, (lacht) z. B. in den Club de Estudiantes de Buenos Aires, ein Klub mit Strohdach. Was gab es da für schöne Frauen! Alle Milongas fanden in Basketballhallen statt, ohne Dach. Einige davon gibt es heute noch, z. B. Sunderland und El Oeste, allerdings mit Dach.

GABRIEL: Mir wurde erzählt, dass in den 70ern im Villa Malcolm alle rausgeworfen wurden, die Wange an Wange tanzten.

CARLOS: Davon weiß ich nichts. Was man heute in Milongas wie Cachirulo sieht, dass eine Trillerpfeife eingesetzt wird, wenn jemand gegen die Regeln tanzt, gab es nirgendwo. Eine nette Schwindelei. Auch wurden Männer und Frauen nicht getrennt gesetzt. Sie waren zwar räumlich getrennt, aber die Männer standen und forderten so auf. Cachirulo hat dennoch etwas von früher: picobello angezogene Leute.

ROSA: Kleidung war immer sehr wichtig, Männer wurden nur in Anzug und mit Krawatte eingelassen. Die Pistenaufpasser kontrollierten Kleidung und Benehmen, aber das geschah sehr diskret.

Rosa, hat dich das nicht gestört, dass er ohne dich tanzen ging?

ROSA: Natürlich! Aber das musste ich hinnehmen. Erst wusste ich es zum Glück ja nicht (lacht).

CARLOS: Damals sagte man in bestimmten Kreisen nicht, dass man Tango tanzt. Heute ist es ein Lob, Milonguero zu sein, damals war es eine Schande. Ein Milonguero, das war ein Faulpelz, ein Weiberheld….

ROSA: Eine Frau, die Tango tanzte, war ein leichtes Mädchen. Schon wenn man Schuhe mit Riemchen trug, wurde man komisch angesehen.

Wie entwickelte sich der Tango damals?

CARLOS: Bis in die 40er Jahre wuchs und gedieh er, in dieser Zeit erfand Petroleo1 die Drehung, wodurch der Tango eleganter wurde. 1950 kam der Boogie nach Argentinien, 1955 der Rock. Die Mädels gingen lieber Rock tanzen, und die Jungs ihnen hinterher. Von 1954 bis 1964 brach der Tango langsam zusammen.

ROSA: (Protestiert ) Aber das mit Petroleo haben sie dir erzählt!

CARLOS: Klar! Du weißt doch, wann ich geboren bin! Bis 1943/44 war der Höhepunkt erreicht, was noch bis 1957/58 anhielt, vielleicht sogar noch bis 1960. Dann begann der Verfall, bis es 1964  fast keinen Tango mehr gab.

Wie tanzte man, als ihr begonnen habt?

CARLOS: In den 50ern tanzten wir alle innerhalb eines gewissen Spielraums gleich, auch wenn jeder seinen eigenen Stil hatte. Es gab nicht so viele verschiedene Richtungen wie heute. Früher erlebte eine Frau bei jedem Tänzer die gleiche sanfte Umarmung, außer vielleicht im Zentrum und um Parque Patricios herum. Da tanzte man härter, draufgängerischer. In den Confiterías im Zentrum wurde nie wirklich gut Tango getanzt. Es ging um Anmache und darum, die Frau so fest wie möglich an sich zu drücken.

Außerhalb von Buenos Aires in den großen Klubs tanzte man zu Orchestern wie Carlos Di Sarli und Osvaldo Fresedo u.a. Tango Salón und zwar sehr gut. Das war ein eleganter, ruhiger Tango mit langen, musikalischen Schritten, der ohne komplizierte Figuren auskam und dem gleicht, was später vielleicht fälschlicherweise Villa Urquiza Stil2 genannt wurde und heute bei der Weltmeisterschaft zu sehen ist. Tango Milonguero oder Tango del Centro nannten wir damals Tango Petitero, das kam von den ‚Petit Cafés’, in denen sich die jungen Männer aus reichem Hause aus Barrio Norte trafen. Damals brauchte ein junger Mann drei Jahre, um Salóntango zu lernen, aber Tango Petitero lernte man in drei Monaten.

Carlos und Rosa, warum habt ihr denn 30 Jahre lang mit dem Tango aufgehört?

CARLOS:  Es war keine bewusste Entscheidung. Der Tango lag im Sterben, in die vier, fünf  Veranstaltungen, die noch übrig waren, gingen nur alte Leute, und die Distanz zu ihnen war viel größer als heute.

ROSA: Wenn man heiratete, ließ man den Tango damals hinter sich. Mit unserer Hochzeit 1964 begannen wir ein anderes Leben, mit Freunden, die keinen Tango tanzten, gingen wir essen, ins Kino, Theater, wir tanzten und hörten Jazz, der in Mode gekommen war.

CARLOS: Ich erinnere mich nicht, dass wir in dieser Zeit ein einziges Mal über Tango sprachen. Das war kein Thema.

Es gab aber auch viele, die nicht vom Tango loskamen und nach der Hochzeit heimlich tanzen gingen.

CARLOS: Ja, manche konnten es nicht lassen. Portalea bekam psychische Probleme und ging zum Arzt, der ihm Tango verordnete, weil seine Beschwerden seelischer Natur seien. Lampazo ließ eine Frau mit vier Kindern für den Tango sitzen und verlor seine Werkstatt mit einigen Angestellten. Alles gab er für den Tango auf. Fino hatte ein Umzugsunternehmen – als er 1959 heiratete, gab er den Tango offiziell auf, stahl sich aber weiterhin samstags davon und tanzte heimlich.

Und nach einer Pause von 30 Jahren seid ihr eines Tages einfach in eine Milonga gegangen? Konntet ihr denn noch tanzen?

CARLOS: Ein Freund aus früheren Zeiten lud uns ins Sin Rumbo ein. Man wollte mir Ehre (?) erweisen und ich sollte vortanzen, nachts um ein Uhr! Ich griff mir an den Kopf, denn um diese Zeit lag ich unter der Woche schon im Bett. Aber ich kam nicht darum herum. So fing alles wieder an.

ROSA. Es ist wie Fahrradfahren, man verlernt es nicht, man hat es in sich.

CARLOS: Die Tangowelt hatte sich verändert, ich konnte es kaum glauben. Im Sunderland wurde nicht mit Cabeceo aufgefordert! Ein alter Bekannter kam im Sin Rumbo an unseren Tisch und sagte, dass seine Frau mit mir tanzen wolle. Ich bin richtig rot geworden vor Scham.

ROSA: Einmal forderte mich jemand am Tisch auf. Natürlich lehnte ich ab! Die Frauen stritten sich um Tänzer. Das hatte es früher nicht gegeben!

CARLOS: (lacht) Aber natürlich hatte es das gegeben, Rosa! Du hast es nur nicht mitbekommen.

Seit 1996 habt ihr eine Práctica im Sunderland, die immer gut besucht ist. Wie unterrichtet ihr und was ist das Geheimnis eures Erfolgs?

CARLOS: Die Práctica  findet montags und mittwochs von 20 bis 22.30 Uhr statt, wir unterrichten Tango Salón.

ROSA: Die ersten 45 Minuten bestehen aus Gehen, Ochos und Haltung. Männer und Frauen üben getrennt. Inzwischen hat man erkannt, dass die Basis das Gehen ist – und nicht Figuren. Um absolute Anfänger kümmere ich mich separat und bringe ihnen Grundlagen bei, damit sie sich bald in die Gruppe einfügen können.

CARLOS: Danach beginnt die geführte Práctica, wir schauen den Paaren zu und raten zu Haltungsänderungen. So unterrichtete man früher.

ROSA: Es gibt kein Geheimnis, es ist die Erfahrung, das Gelebte. Carlos hat den Tango von jung an verinnerlicht.

GABRIEL: Viele unterrichten, aber Rosa und Carlos vermitteln Tango. Sie müssen sich nicht erst in Position bringen, sie sind Tango.

CARLOS: Wir hatten talentierte Schüler, die umsetzten, was wir ihnen beibrachten, und ein Weltmeister zog wahrscheinlich andere an. Wir haben Glück, wir machen keine Werbung, es ist nur Mundpropaganda und die Leute kommen, obwohl es vom Stadtkern ein weiter Weg ist.

ROSA: Wir versuchen, alle gleich zu behandeln und eine gesunde Beziehung zwischen allen zu fördern. Es herrscht eine familiäre Atmosphäre und so wenig Konkurrenz wie möglich. Die Schüler, die an der Weltmeisterschaft teilnehmen, stehen schon genug unter Druck.

GABRIEL: Wenn ich Carlos praktische und einleuchtende Erklärungen höre, geht mir das Herz auf. Bei einer Haltungskorrektur für einen Mann sagt er z.B.: „Sonst schlägt dein Jackett Falten.“ Oder, wenn er erklärt, wie die Oberkörper einander zugewandt sein müssen: „Mit allem Respekt, aber die linke Brust der Frau muss auf der rechten des Mannes liegen.“ Solche Bilder sind sehr einprägsam.

CARLOS: Man sollte spielerisch Tango lernen, nicht so tierisch ernst. Kommt, um euch zu amüsieren!

Gabriel, auch dein Unterricht ist beliebt. Wo und was unterrichtest du?

GABRIEL: Ich unterrichte freitags von 20.30 bis 23 Uhr im Villa Malcolm ‚Tango der Gegenwart’, von Tango Nuevo möchte ich mich abgrenzen. Meine Schüler lernen schnell, kommen nach zwei Monaten in der Milonga zurecht. Es darf nicht zehn Jahre dauern, bis einer Tango tanzen kann. Mein System ist organisch, ich unterrichte keine Schrittkombinationen, Bewegungen ergeben sich natürlich, wie beim Gehen. Die Kommunikation im Paar findet dort statt, wo Bewegungen entstehen. Ändere ich die Fußstellung, ändert sich alles im Körper. Offen oder eng ist egal, die Mechanik ist gleich. Alles ist auf die drei Arten zu gehen aufgebaut: linear, gekreuzt, seitlich. Aus dem Seitschritt ergeben sich Drehungen, Ochos und Sacadas. Es funktioniert.

CARLOS: Gabriel ist für mich ein Phänomen. Er hat den Körper studiert wie kein anderer, auseinander genommen, zerpflückt und wieder neu zusammengesetzt. Es gibt keinen Muskel, den er nicht benennen kann. Auf so eine Idee wäre ich nie gekommen. Seine Práctica ist ein entspannter Ort mit jungem Geist,  und Gabriel lässt sich immer etwas Neues einfallen, glaube ich.

Wie wurdet ihr zu Tangolehrern?

GABRIEL: Das war 2004 mit einer Freundin. Ich sollte die Technik nach dem aus Tango Nuevo bekannten Bewegungsprinzip (Oberkörper, Becken und Beine) unterrichten, demzufolge Bewegungen ‚geschehen’ sollen, weil der Körper wie eine Spirale funktioniert. Aber das kriegte ja noch nicht mal ich hin! Mein eigener Weg begann mit einer intensiven Auseinandersetzung mit der Anatomie, der Mechanik von Bewegung. Bald wurde ich nach Privatunterricht gefragt und unterrichtete dann mit Cristina Cortéz und Julieta Falivene zwei Jahre lang die modernen Sachen.

ROSA: Als Lampazo starb, fragte man uns, ob wir weitermachen würden. Carlos hatte ja seine Druckerei,  und so gaben wir nebenher zweimal die Woche Unterricht im Stil von Lampazo: zehn Minuten gehen und dann Figuren. Aber da wir im Sunderland keine zwei Niveaus getrennt unterrichten konnten, kamen wir von den Figuren weg und der Schwerpunkt blieb bis heute das Gehen.

CARLOS: 2002 reisten wir zum ersten Mal mit dem Tango ins Ausland. Dort wurde ich krank, wegen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs 2001/02 bekam ich Panikattacken. Als ich im Ausland zur Ruhe kam, zeigte sich mein ganzer Stress. Der Arzt empfahl mir Ruhe und eine Entscheidung, da mir die Druckerei zu viele Sorgen bereitete. Eine Wahl zwischen Gesundheit und Geld zu treffen war nicht schwer, und bald darauf widmete ich mich nur noch dem Tango.

GABRIEL: Ich war 2003 noch Buchhalter, als mein Kompagnon am Herzen operiert wurde. Ich hatte wahnsinnigen Stress, war total in Sorge und wusste nicht, was aus ihm würde. Als er starb, war der Tango meine einzige Erdung, mi cable a tierra, und ich entschied, dass es bei meiner Arbeit nicht mehr hauptsächlich um Geld gehen sollte.

CARLOS: Uns half das Glück: 2005 wurde das erste unserer Schülerpaare Weltmeister, Sebastián Achaval & Ximena Galliccio. Seitdem jedes Jahr: 2006 Fabian Peralta & Natacha Poberaj, 2007 Dante Sanchez & Ines Muzzapappa, 2008 Daniel Nacucchio & Cristina Sosa, 2009 Hiroshi & Kioko und 2010 Sebastian Giménez & Maria Inés Bogado.

Ist es leicht oder schwer, Tango zu unterrichten?

CARLOS: Ich hatte keine Ahnung am Anfang. Eine Schülerin fragte mich zu Beginn: „Wie verlagere ich das Gewicht?“ Ich schaute sie irritiert an. Das Gewicht von was? Früher gab es solche Ausdrücke nicht. Also antwortete ich: „So natürlich wie möglich.“ Jeden Tag lerne ich durch die Fragen der Schüler etwas.

ROSA: Eine Tänzerin fragte mich: „Wie soll ich atmen?“ Man hatte ihr gesagt, sie solle den Mann mit ihrem Atem umfangen, wenn sie auf ihn zugehe. Da war ich kurz sprachlos und sagte ihr: „Atme wie immer.

GABRIEL: Tango wird meist von Tänzern unterrichtet, deren Stärke das Tanzen, nicht unbedingt die Pädagogik ist. Nicht immer versetzen sie sich in die Lage der Schüler, und die kommen sich dann dumm vor. Aber eigentlich ist es der Lehrer, der seine Hausaufgaben nicht gemacht hat.

CARLOS: Es gibt unseriöse Lehrer, die Sachen erfinden und Wahrheiten des Tango infrage stellen, und dann kostet es einen ernst zu nehmenden Lehrer viel Arbeit, das wieder gerade zu biegen.

GABRIEL:  Man muss auch berücksichtigen, dass jeder seine eigene Motivation im Tango hat. Der eine kommt, weil er sich vom Partner trennt, auf Frauen- oder Männersuche ist und der andere, weil er wirklich Tango lernen will.

CARLOS: Manchmal sind wir in einer schwierigen Rolle, fast wie Eltern. Unsere Schüler fragen uns persönliche Dinge und wir wissen nicht, was wir sagen sollen. Auch der Umgang mit unterschiedlichen Kulturen ist eine Herausforderung, aber meine Welt wird dadurch immer weiter.

Was habt ihr für Projekte, Wünsche, Träume?

GABRIEL: Dass wie in den 40ern alle Welt Tango tanzt, dass die Tangowelt einfacher wird, ohne ins Falsche, Oberflächliche, Kitschige abzurutschen. Aber unser Staat wird dabei niemals helfen, wir müssen das selbst in die Hand nehmen. Außerdem: ein Buch schreiben, das gemeinsame Projekt mit Carlos und Rosa in Argentinien und in anderen Ländern verwirklichen, weiter mit ihnen arbeiten, verbreiten, was sie vermitteln. Denn sie haben meine Tangowelt grundlegend verändert und erneuert.

CARLOS: Rosa und mir hat der Tango eine Menge gegeben: tiefe Freude und Befriedigung, als ich jung war und als wir wiederkamen. Meine größte Genugtuung ist es, dass all das, was ich weiß, nicht verloren geht. Das heißt, es nicht nur zehn, sondern Hunderten, so vielen wie möglich zu vermitteln. Wer mag, darf davon Gebrauch machen, wenn nicht, ist es nicht mein Problem. Ich gebe alles, was ich habe. Das ist meine Art, den Tango zu verteidigen.

ROSA: Wir haben nicht mehr die Kraft und Initiative, all dies selbst umzusetzen, aber wir werden Gabriel begleiten und ihn mit viel Freude dabei unterstützen, noch einmal so eine Begegnung der alten und neuen Schule zu veranstalten.

GABRIEL: Dafür sorgen, dass Tango als kollektive Erfahrung, als Gesellschaftstanz weiter existiert.

Ihr sprecht immer von der ‚Essenz des Tango’, die nicht verloren gehen darf. Verzeiht mir, aber mir ist immer noch nicht klar, was diese Essenz genau ist.

CARLOS: Jetzt stellst du uns aber nach so vielen Stunden eine schwierige Frage, die uns wieder an den Anfang bringt! Für mich gehören zur Essenz des Tango auch die Geschichten, die darin erzählt werden, von dem Buenos Aires, dem Argentinien von damals. Bezogen auf den Tanz gehört all das dazu, wovon wir gesprochen haben: die Musik, die Verbindung im Paar und mit der Musik und schließlich das Gefühl, das Herz, mit dem beide sich in den Tanz einbringen und aufeinander einlassen. Auch das Gemeinschaftserlebnis gehört zum Tango Salón, sich auf der Milonga als Teil einer tanzenden Gemeinschaft zu fühlen, sich auf der Tanzfläche in Harmonie mit anderen zu bewegen.

GABRIEL: Es ist das, was du spürst, wenn du ein Paar tanzen siehst, das dich ergreift. Wenn sie keinen Tango haben, wenn die Essenz verloren ging, dann spürst du, dass etwas fehlt, aber du kannst es nicht in Worte fassen.

ROSA: Deshalb ist es ja so schwer zu vermitteln und zu erklären. Es ist das, was innen passiert. Es ist ein intimes Gefühl, etwas sehr Individuelles. Zum Beispiel Sebastian, der 2010 im Alter von 18 Jahren Weltmeister wurde. Natürlich haben wir ihm viel beigebracht, aber über das hinaus hat er etwas dazugegeben, das wir ihm nicht vermittelt haben. Er geht wie kein anderer. Das ist seine Essenz und gleichzeitig auch die Essenz des Tango.

Aber wer zu elektronischer Musik tanzt, empfindet doch auch etwas. Gabriel, als ihr damals in dieser Halle getanzt habt, da habt ihr doch auch etwas gefühlt!

GABRIEL: Ja, aber das war anders. Im Spanischen gibt es einen Unterschied zwischen ‚sentimiento’ und ‚sensación’. Ersteres ist ein Gefühl, das eher innen bleibt, vielleicht auf einen anderen gerichtet ist. Wir haben uns damals ausgetobt, waren außer uns vor Freude und Entdeckungslust, aber es ging stark nach außen. Es hatte nicht diese Intimität, die für mich heute zur Essenz des Tango gehört.

Wie seht ihr die Zukunft des Tango?

CARLOS: Einen Tango, der seine Essenz bewahrt, ergänzt und erweitert durch Bewegungen, die vielleicht anders sind, aber die so getanzt werden können, dass es dennoch Tango bleibt. Tango ist sanft, elegant und empfindsam. Wenn das nicht verloren geht, dann wird man auch in der Zukunft sehr gut und einen wunderbaren Tango tanzen können. All dies wurde mir durch unsere Begegnung mit Gabriel, durch das Zusammentreffen von Tango clasico & Tango moderno klar. So wie wir uns gegenseitig bereichert haben, können beide Schulen sich bereichern. Gabriel steht für die ‚neue Schule’, er beherrscht den Körper, die Technik, ist ein Energiebündel, ein Kreativer. Wir repräsentierten die ‚alte Schule’ und haben unser Wissen, unsere Erfahrung, das Gelebte, das Ruhige und Sanfte dazugefügt. Das ist eine gute Mischung. Nur diese extremen Entwicklungen, die es gab, sind nicht gut, weil sie den Tango so weit brachten, dass es keiner mehr war.

GABRIEL: Ja, im Tango Nuevo passierte das, da gab es viele Leute, die zwar gut tanzten, aber sie suchten immer mehr das Spektakuläre. Die Hand weit unten fast am Po des Mannes, merkwürdige Handstellungen, Umarmungen etc. In den 90ern war Auffallen die Devise, jeder wollte seinen eigenen Stil erfinden, seine Pose, was dann eine Zeit lang imitiert wurde. Es wurde immer abstruser.

CARLOS: Im gegenwärtigen Tango hat die Frau eine aktivere Rolle als früher, und das wird die Frauen glücklich machen; das Bewusstsein für und die Kenntnis des traditionellen Tango werden dafür sorgen, dass seine Essenz erhalten bleibt. Denn wenn das nicht geschieht, degeneriert der Tango, bis nichts mehr davon bleibt – und das wäre ein schmerzlicher Verlust für die ganze Welt.

1 Carlos Estevez, 1912-1995, der 1929 zu tanzen begann und viel zur Erneuerung des Tango beitrug
2 benannt nach einem Stadtviertel in Buenos Aires, Villa Urquiza, von dem man sagt, die Wiege des Tango Salón zu sein

Gabriel Glagovsky: http://gabrieltango.weebly.com/index.html

Carlos Perez und Rosa Forte: cyrtango@yahoo.com.ar