Jonathan Saveedra & Clarisa Aragon „Als wäre es unsere letzte Tanda der Nachtˮ

Von Ute Neumaier, Buenos Aires, veröffentlicht in Tangodanza Nr. 66, Juni 2016

August 2015 – Jonathan und Clarisa haben die Weltmeisterschaft in der Kategorie Tango de Pista1 gewonnen. Mit 21 Jahren sind sie die jüngsten Campeones Mundiales seit dem Beginn dieses Wettbewerbs im Jahr 2003. Es sind schon einige Monate seit ihrem spektakulären Sieg vergangen. Diesen Tag werden sie jedoch niemals vergessen, denn er veränderte ihr Leben schlagartig. Von heute auf morgen wurde das begabte, junge Tanzpaar unter so vielen anderen in Buenos Aires zu den Stars des Tango Tradicional.

Als ihr bei der Siegerehrung ausgerufen wurdet, wirkest du, Jonathan, wie unter Schock, während Clarisa sich sofort zu freuen schien.

JONATHAN: Ich war blockiert, bekam keine Luft. Im Zeitraffer ging mir alles durch den Kopf, was ich mit dem Tango erlebt hatte. Die Weltmeisterschaft war unser größtes Ziel, wir hatten davon geträumt, aber nicht erwartet, es so schnell zu erreichen.

CLARISA: Wir sind deswegen im März 2014 von Cordoba nach Buenos Aires gezogen. Aber dann stehst du da oben und kannst es nicht fassen.

Wie war der Moment nach dem ersten Freudentaumel?

CLARISA: Die Weltmeisterschaft zu gewinnen ist die größte Anerkennung, die einem Tanzpaar seitens einer Jury zuteilwerden kann. Die Freude war groß, aber es gab auch Bedauern. Mir fielen Freunde von uns ein, die sich genauso wie wir Jahr für Jahr präsentiert und den gleichen Kampf durchfochten haben – aber leider kann nur ein Paar Weltmeister werden und wer das schafft, ist letztendlich ja immer eine Frage des Glücks.

JONATHAN: Wir waren erschöpft, aber auch zufrieden und stolz. Und wir wussten, dass wir nun einen etwas sichereren Weg vor uns haben. Und mir wurde klar, dass Clarisa nicht mehr auf der Straße tanzen musste, was mich immer traurig gemacht hat und ich ihr immer ersparen wollte.

Hast du, Jonathan, deshalb beim Vortanzen in den Milongas oft das Mikrofon genommen und von der Arbeit als Tänzer in Straßenshows gesprochen?

JONATHAN: Ja, denn es ist hart, sich so sein Brot zu verdienen. Wenn es regnet, hast du keine Einnahmen. Oft wird man als Tänzer von den Veranstaltern solcher Shows schlecht behandelt. Man muss für Schuhe und Kleidung selbst aufkommen. Und wie schnell Schuhe verschleißen, wenn man auf Kopfsteinpflaster tanzt! Dein Verdienst reicht aber nicht für ein neues Paar. Unsere Eltern haben uns moralisch unterstützt, finanziell ging es nicht. Ich verletzte mich mal beim Tanzen auf der Straße am Meniskus. Den Veranstalter interessierte das wenig, er beteiligte sich nicht an den Behandlungskosten und verdienen konnte ich erst mal nichts mehr.

CLARISA: Im Winter zog ich mir eine wärmere Jacke über mein Tanzkleid, das nur ein Hauch von Stoff war. Der Veranstalter schrie mich an: „Was fällt dir ein? Zieh das gefälligst aus!“ Da musste ich schlucken und den Mund halten, ob ich krank wurde oder nicht. Man leistet viel, verdient wenig, arbeitet in mehreren Shows pro Tag, zahlt Kleidung und Unterricht selbst und dann wird man auch noch angeschnauzt! Aber so ist das Leben von Tänzern, die meisten nagen am Hungertuch und es gibt so viel Konkurrenz. Wenn man unmenschliche Bedingungen nicht akzeptiert, stehen verständlicherweise viele andere Schlange und sind zu allem bereit.

JONATHAN: Aber später merkst du, dass das ein Teil deiner Ausbildung ist, dass du dankbar sein musst. Die Arbeit auf der Straße hat uns vieles gelehrt, hat uns reifer gemacht und uns den Wert des Geldes gezeigt. Es gibt Tänzer, die sich zehn Privatstunden leisten können, unseren Existenzkampf kennen sie nicht.

CLARISA: Natürlich brachte es uns auch weiter, dass wir Tag für Tag acht bis neun Stunden tanzten.

Wie sah euer Leben mit dem Tango vor Buenos Aires aus?

CLARISA: Ich komme aus einer Tango-Familie. Mein Vater unterrichtet, und daher war der Tango immer präsent. Ab meinem achten Lebensjahr tanzte ich Folklore, Ballett und Modern Dance – der Tango interessierte mich erst mit 15.

JONATHAN: Mein Papa ist Polizist, meine Mutter Hausfrau, mit Tango hatten sie nichts zu tun. Ich tanzte seit meinem siebten Lebensjahr Folklore. Mein Vater wollte nicht, dass sein Sohn Tänzer wird, er wünschte sich ein sichereres Leben für mich. Aber meine älteren Geschwister lernten Tango und brachten mir die ersten Schritte bei. Mir gefiel, wie der Tango in dieser Welt gelebt wurde, dass er ein Tanz der einfachen Menschen war, die einander umarmten und dabei alles um sich herum vergaßen. Ich war damals ganz schön von mir überzeugt, forderte alle Mädels auf und veranstaltete natürlich ein Chaos auf der Tanzfläche (lacht). Mit 17 lernte ich Clarisa kennen, und bald darauf fingen wir an, miteinander zu üben.

Gab es auch Zweifel an eurem Weg?

JONATHAN: Klar, es ist schwer, vom Tango zu leben. Immer Mal wieder fragten wir uns, ob wir uns nicht eine andere Arbeit als Kellner oder Prospektverteiler suchen sollten.

CLARISA: Kurz vor unserem Umzug stand alles auf der Kippe. Wir wollten nach Buenos Aires, hatten aber kein Geld und brauchten ein Startkapital. Also organisierten wir Tanzveranstaltungen, um die erforderliche Summe zusammenzukriegen. Die ersten drei Events liefen gut und wir setzten alles auf eine Karte, auf die vierte Veranstaltung in einem Dorf bei Cordoba. Dort kannte uns aber niemand und es kamen nur 15 Gäste! Wir verloren alles und waren verzweifelt.

JONATHAN: Dann machten wir einen Deal mit dem Schicksal und planten ein letztes Event. Wenn wir 3.000 Pesos (ca. 185 Euro) verdienten, würden wir den Schritt wagen und nach Buenos Aires gehen, wenn nicht, wollten wir die Tanzschuhe an den Nagel hängen.

CLARISA: Denn wir brauchten 1.000 Pesos für die Bustickets und 2.000 für die Miete.

JONATHAN: Es kamen genau 3.100 Pesos zusammen! Das Schicksal hatte entschieden und es ging los. So gut wie vom ersten Tag an konnten wir in verschiedenen Shows arbeiten, tagsüber in einer und abends in einer anderen. Ausgehen konnten wir nicht, aber wir vertrauten darauf, dass alles seinen Sinn hatte.

Gab es weitere Hürden?

JONATHAN: Ja, als ich Gallensteine hatte, mit dem Notfallwagen ins Krankenhaus gebracht und operiert wurde. Alles kam gleichzeitig: Probleme mit dem Meniskus und dann noch Gallensteine.

CLARISA: Er musste einen ganzen Monat das Bett hüten, ich ging ohne ihn zur Arbeit.

JONATHAN: Für einen Mann ist es schwer, krank im Bett zu liegen, während seine Freundin das Geld für zwei verdienen muss.

CLARISA: Auch kurz vor der Weltmeisterschaft gab es einen kritischen Moment. Ständig fielen Shows ins Wasser, Projekte wurden gecancelt und Einnahmen, mit denen wir fest gerechnet hatten, blieben aus.

JOHATHAN: Doch am Tag des Halbfinales änderte sich alles. Wir arbeiteten zu diesem Zeitpunkt in der Bar Sur. Ein Gast gab uns ein sehr gutes Trinkgeld. Jemandem gefiel, wie wir tanzten! Wir sagten uns, dass die Dinge für uns als Paar ja so schlecht nicht stünden und zogen los.

Ihr wurdet ja erst in Buenos Aires auch außerhalb des Tanzes ein Paar, nicht wahr? Hat das etwas verändert?

CLARISA: Ja, wir tanzen seit vier Jahren miteinander und sind erst seit zwei Jahren ein Paar. Das ist auch gut so, denn so lernten wir einander wirklich kennen und vertrauen. Vielleicht haben wir damit eine Grenze überschritten, was in unserem Tanz fühlbar ist.

JONATHAN: Clarisa hat mir immer gefallen. Aber wir wollten die Dinge trennen und miteinander arbeiten. In Buenos Aires änderten sich plötzlich unsere Gefühle. Ich merkte es beim Tanzen, wusste aber nicht, ob es ihr auch so ging. Wir sagten nichts, aber wenn wir uns umarmten, haute es uns fast um. Irgendwann ließ es sich nicht vermeiden. Viele Tanzpaare, die auch sonst ein Paar sind, streiten sich oft. Das kam bei uns nie vor, man hat uns sogar schon nach unserem Geheimnis gefragt. Aber es gibt keines, manchmal klappt etwas eben nicht. Dann suchen wir den Fehler immer zuerst bei uns selbst oder wir wechseln die Musik.

Welche Lehrer haben euch dabei unterstützt, so weit zu kommen?

CLARISA: Facundo de la Cruz & Paola Sanz, Weltmeister Salontango 2012, haben uns von Anfang an begleitet. Auch Gaspar Godoy, Weltmeister Bühnentango 2003, & Carla Mazzolini spielten eine wichtige Rolle. Wir nahmen zwar nicht kontinuierlich Unterricht bei ihnen, aber sie waren immer präsent, kritisierten und lobten uns. Wenn ein Weltmeister zu dir sagt, dass du das Zeug hast, selbst einer zu werden, ist das natürlich die größte Ermutigung.

JONATHAN: Die Weltmeister im Salontango 2011, Diego Benavidez & Natasha Agudelo aus Kolumbien, spielten für uns sowohl auf tänzerischer als auch auf emotionaler Ebene eine große Rolle. Sie gaben uns wichtige Ratschläge und ermutigten uns, unseren Weg zu gehen. Wenn wir ihnen zuhörten, hatten wir mehr als einmal Tränen in den Augen.

CLARISA: Sie sprachen von Werten, von Bescheidenheit, Ehrlichkeit und Beharrlichkeit. Sie sagten, wir sollten sein wer wir sind, und tanzen, wie wir es fühlten – und nichts anderes vorgeben.

JONATHAN: Sie machten uns bewusst, dass es Arbeit für uns gibt, dass uns aber auch hässliche Dinge begegnen würden. Sie ermutigten uns einerseits zu träumen, und andererseits maximalen Einsatz zu bringen.

Ihr habt nun das höchste Ziel erreicht. Was habt ihr nun vor?

JONATHAN: Tänzern helfen, die noch auf dem Weg sind und leiden, worunter wir gelitten haben. Unser Niveau halten, beweisen, dass wir diesen Sieg wert waren und so viel arbeiten, als hätten wir niemals gewonnen. Unterricht nehmen und Englisch lernen, denn nun können wir das auch bezahlen.

CLARISA: Wir möchten eine Tournee durch Argentinien machen, den Tänzern aus unserer Heimat etwas geben. Denn uns wurde so vieles gegeben.

JONATHAN: Die Hürden, die ein Tänzer aus Argentinien oder einem anderen Land Lateinamerikas zu nehmen hat, um an der Weltmeisterschaft teilzunehmen, lassen sich nicht mit denen eines Tänzers aus Amerika oder Deutschland vergleichen. Stelle dir nur vor, dass es ein Paar gab, das acht Tage lang über Land nach Argentinien reiste, um am Mundial teilzunehmen, weil es sich keinen Flug leisten konnte!

Apropos Deutschland… Ihr wart schon ganz zu Beginn eurer Karriere dort. Wie kam es dazu?

JONATHAN: Wir lernten in der Bar Sur ein Paar aus Deutschland kennen, Matthias Leinweber und Edit Batta aus Werne. Eines Abends waren sie die einzigen Gäste und wir tanzten nur für sie. Später nahmen sie Unterricht bei uns, es entstand eine Freundschaft und sie luden uns ein.

CLARISA: Sie hatten gerade mit dem Tango begonnen und nahmen diese große Verantwortung auf sich, ein unbekanntes Tanzpaar einzuladen. Wir konnten es kaum fassen, aber sie glaubten an uns, einfach so.

JOHATHAN: Es war unsere erste Reise, unser erster Flug – Englisch konnten wir nicht und Matthias und Edit kein Spanisch. Aber sie organisierten alles: Auftritte, Workshops und einen Dolmetscher, wir hatten das alles ihnen zu verdanken.

Und wem oder was habt ihr eurer Meinung nach den Sieg bei der Weltmeisterschaft zu verdanken?

JONATHAN: Beim Finale im Luna Park geschah etwas Unbeschreibliches. Es ist kein Pappenstiel, auf dieser riesigen Bühne vor einer solchen Menschenmasse zu tanzen! Alle sagen zu dir: „Los, raus auf die Bühne, genießt es …“. Du gehst raus – und von wegen Genießen! Du zitterst total. Aber dieses Mal war es anders. Mir kam der Gedanke: „Ist doch egal, denn dieses Jahr werden wir sowieso nicht gewinnen“, und da wurde ich ganz ruhig.

CLARISA: Wir haben Strukturen gebrochen, haben nicht so getanzt, wie man im Mundial tanzt, sondern so wie in der Milonga. Eine der Regeln besagt, dass die Tänzerin die Füße nicht über Kniehöhe heben darf.  Aber ich mache auch in der Milonga hohe Boleos, wenn es Platz gibt! Also sagte ich mir, warum dann nicht im Mundial? Wir hatten bereits 2013 und 2014 teilgenommen, waren mal auf den 8. und mal auf den 11. Platz gekommen. In beiden Jahren hatten wir uns an das gehalten, was man von uns erwartete, aber es machte uns keine Freude. Also sagten wir uns: „Wir tanzen so, wie wir es fühlen, und wenn wir schlecht bewertet werden, dann hatten wir wenigstens unseren Spaß.“

JONATHAN: Wenn du in der Milonga bist und die letzte Tanda des Abends tanzt, gibst du alles. Du tanzt mit deinem ganzen Herzen und genießt es in vollen Zügen. Genauso haben wir getanzt, nicht für die Jury, sondern als sei es unsere letzte Tanda der Nacht. Vielleicht war es das…

1 Von 2003 bis 2012 hießen die beiden Kategorien der Weltmeisterschaft Tango Salon und Tango Escenario (Bühnentango), ab 2013 wurde erstere in Tango de Pista umbenannt.