Cochabamba 444 - Milonga mit Herz und Gewissen

von Ute Neumaier, Buenos Aires, veröffentlicht in Tangodanza Nr. 53, Januar 2013  

Kopfsteinpflaster, eine einsam und verlassen wirkende Straße mitten in San Telmo. Ein Vereinshaus im alten Stil, der Klub General Belgrano. Vor der Tür junge Leute, rauchend, lachend, weitab von jeglichem Modediktat oder Milonga-Dresscode. Auf der Tanzfläche dreht die Jungschar fröhlich und eng umarmt ihre Runden. Ein strahlendes „Feliz Jueves¹“ – und schon gehört man zum ‘Jueves de Cochabamba’, der durch den plötzlichen Tod der Organisatorin zum ‘Jueves de Ana Postigo’ wurde.

Die ‘Cocha’ hat Tradition, war schon früh Zufluchtsstätte des Tango und Zeugin seines Wandels. Mehr oder weniger kunstvolle Porträts, Gemälde und Pokale sowie stark verblichene Ablichtungen der Tangogrößen der vergangenen 30 Jahre erzählen davon. Hier unterrichtete in den Achtzigern der mythische ‘Pepito’ Avellaneda und in den Neunzigern Mingo Pugliese mit seiner Frau Esther. Hier probte und lehrte Gustavo Naveira mit Olga Besio und später mit Giselle-Anne. Hier ging Omar Vega ein und aus, und für Eduardo Capussi wird auch heute noch bis 23 Uhr ‘sein’ Tisch freigehalten. Hier entstanden vor 17 Jahren die ersten Prácticas, die unter der Leitung von Ana Postigo (†2011) vor neun Jahren zu einer Milonga wurden.

Die Schauspielerin und Tangolehrerin, erzählt María Valeria Chinnici, die Grafikerin und Fotografin der ‘Cocha’, hatte ein Herz für die Jugend, die Kunst, den Tango und war solidarisch mit allen, denen es schlechter ging als ihr selbst. Deshalb fühlt sich das 15-köpfige Team stark mit ihr verbunden und führt die Milonga heute mit viel Idealismus und Begeisterung als Kooperative weiter. „Nachdem wir den ersten Schock über ihren Tod überwunden hatten, waren wir uns als ihre Schüler, Fans und Freunde sofort einig: Wir machen weiter, das hat sie verdient“, so Maria.

Seitdem existiert dieses seltene Milonga-Biotop fröhlich weiter, und jeder Donnerstag ist wie ein Fest. Mehr als um das ultimative Tanzerlebnis oder die hohe Schule des Tangotanzens geht es hier um ausgelassenes Beisammensein. „Wer seine Boleos zeigen oder die goldenen Schuhe ausführen will, soll lieber woanders hingehen“, empfiehlt Maria lakonisch.

Trotz ihrer langen Geschichte ist die Cochabamba keine traditionelle Milonga mit starren Regeln und strengen Blickes über die Piste wachenden Milonga-Stars. Wenn es bei 80 bis 120 Besuchern pro Woche auf der Tanzfläche mal zu einem Zusammenstoß kommt (was auf anderen Milongas schnell ein Drama ist), sieht man lachend darüber hinweg. Die sogenannten Habitués² haben auch hier ihren festen Tisch; aber die Bedeutung eines Gastes drückt sich nicht über die Nähe seines Sitzplatzes zur Tanzfläche aus. In der ‘Cocha’ teilt man gerne die großen Klubtische mit Unbekannten und kommt ins Gespräch.

Wer hier im Klub Belgrano den Abend verbringen möchte, sollte Sinn für Humor mitbringen und sich nicht daran stören, dass die Boxen etwas scheppern. Auch dass der Strom ausfallen kann, sollte man gelassen hinnehmen. Dann gibt es eine Kostprobe des argentinischen Improvisationstalents, wie vor Kurzem, als ‘Andariega’ und Pablo Fraguela eine ganze Stunde in der Dunkelheit spielten und alle selig weitertanzten, als sei nichts vorgefallen. Denn in der Cochabamba zollt man der jungen Kunst in all ihren Ausdrucksformen Respekt, einem Konzert, einem kurzen Theaterstück oder einer Lesung.

DJane ist Maria. Sie legt zu 80 % gesungene Tangos auf, auch mal Milonga-Unübliches wie Lidia Borda oder Pulice-De Vicenzo. Und mit der musikalischen Erziehung hat sich das ‘Cocha’-Team etwas richtig Kreatives einfallen lassen: Schilder im DIN A 4-Format, eingeheftet in ein Ringbuch, die während der Cortina umhergezeigt werden und so über das Orchester, die Stücke und Autoren der nächsten Tanda informieren.

Das wahre Markenzeichen der ‘Cocha’ ist aber die Tatsache, dass es eine Milonga a la gorra³ ist, bei der jeder zahlt, was er kann. So wollte es Ana, und ihr Motto war: ‘Eine Hand aufs Herz,  die andere auf den Geldbeutel und so über den Beitrag entscheiden’. Denn das Tangotanzen ist in der Cochabamba eben auch eine Frage des Gewissens.

Alles auf einen Blick:

Website: http://www.anapostigo.com.ar
Musik: traditionell
Auffordern:  selten mit und meistens ohne Cabeceo
Unterricht von 21 bis 22:30 Uhr, 25,– ARS mit Nicolas Fernandez Larrosa, Milonga bis 2:30 Uhr
Tipps: ruhig auch ohne Begleitung hingehen; nach der Milonga keinen Spaziergang durchs Viertel machen, lieber mit dem Taxi fahren

1 Glücklicher Donnerstag
2 in der argentinischen Tangowelt der Stammgast einer Milonga
3 Veranstaltung ohne festen Eintrittspreis, bei der ein Hut herumgereicht wird, in den jeder seinen Beitrag legt