Club Sin Rumbo - La Catedral del Tango

von Ute Neumaier, Buenos Aires, veröffentlicht in Tangodanza Nr. 42, April 2010  

Der ruhmreiche Name Sin Rumbo fällt grundsätzlich in Zusammenhang mit der Erwähnung großer Tänzer und steht für die ‚goldenen Jahre’ des Tango. Jeder hat davon gehört, aber viele Besucher der Milongas in der Innenstadt waren noch nie da. Liegt es an der langen Anfahrt in den Stadtteil Villa Urquiza im Norden von Buenos Aires?

Ich lasse mich nicht abschrecken. An einem schwülen Hochsommerabend fahre ich hin. Nach etwa einer halben Stunde erkennt der Taxifahrer das berühmte Eingangsportal an der Ecke Tamborini und Constituyentes sofort. Willkommen im Sin Rumbo!

Vorbei an mehr oder weniger glänzenden Pokalen führt der Weg durch einen roten Vorhang in den Klubraum. Schummerlicht aus kitschigen Laternen, rechts an der Wand blicken sich Eva und Juan Dominguez Perón bedeutungsvoll in die Augen, gold auf schwarzem Grund, darunter flattert die argentinische Flagge im Emblem. Markenzeichen des Klubs ist die Tanzfläche mit ihren schwarz-weißen Fliesen. Darüber drehen sich schnarrend die etwas verstaubten Ventilatoren, auch sie Relikte der Vergangenheit. Gemälde unterschiedlichster Kunstrichtungen hängen dicht an dicht neben verblichenen Fotos der Tanzprominenz von einst. Fileteado-Ornamente ergänzen schwungvoll den nostalgischen Stilmix.

Im Sin Rumbo treffen sich Tänzer aus der Nachbarschaft, betagte und weniger betagte. Sie sind hier offenbar seit Jahrzehnten zu Hause. Die wenigen ganz jungen Paare sind Profis oder wirken zumindest so.  Es ist heimelig hier, man riecht die Provinz, ganz anders als im Zentrum. So müssen die Clubes de Barrio von früher gewesen sein! DJ Oscar Marcelo spielt Tangos aus den 40ern und 50ern. Im Sin Rumbo liebt man Tango pur und traditionell, einzige Ausnahme ist die Tanda Jazz americano pro Abend. Sonst bleiben die Füße strikt am Boden, getanzt wird eng.

Ich treffe mich mit Julio (70) und Elsa Duplaa, die hier vor vier Jahren den Tango wiederbelebt haben. Sie sind weit über die Tangokreise hinaus bekannt, sind sie doch die Eltern der – zumindest in Argentinien – berühmten Schauspielerin Nancy Duplaa. Julio ist zum ersten Mal im Leben Milonga-Organisator, tanzt aber seit 55 Jahren. Deshalb vertraute die Klubkommission ihm blind.

Das Sin Rumbo wurde 1919 von jungen Leuten gegründet und rühmt sich, „die älteste Milonga der Welt“ zu sein. Die Leidenschaft der Gründer waren Pferdewetten. Wenn sie Glück hätten, so die Vereinbarung, sollte vom Gewinn ein Klub gegründet werden. Das Pferd hieß ‚Sin Rumbo’ – der Rest erklärt sich von selbst. In dem Klub entwickelte sich, was bis heute getanzt wird: Der Estilo Villa Urquiza. Berühmte Paare wie Gerardo & Martha Portalea oder Milena Plebs & Miguel Angel Zotto haben sich hier gefunden. 1968 taufte man die heiligen Hallen des 2×4 deshalb ‚La Catedral del Tango’. Der Klub hat alle Höhen und Tiefen Argentiniens begleitet und miterlebt: geöffnet, geschlossen und wieder geöffnet, so ging es immer. Besonders zugesetzt hat dem Sin Rumbo aufgrund seiner peronistischen Gesinnung die letzte Militärdiktatur.

Berühmte Orchester wie Juan D’Arienzo und Carlos Di Sarli spielten hier; man hörte namhafte Sänger der 40er Jahre wie Alberto Castillo und Roberto Florio. Bis heute ist die Ikone des Klubs Carmencita Calderón, die Tanzpartnerin des legendären ‚El Cachafaz’. Mit 100 Jahren tanzte sie immer noch, an der Wand hängt der fotografische Beweis. María Nieves, Juan Carlos Copes und Miguel Ángel Zotto begannen hier ihre Tänzerkarriere, heißt es. Robert Duvall hat für den Film Assassination Tango hier seine ersten Tanzschritte getan und der Klub war die Filmkulisse.

Geraldine Paludi, die im Club Sunderland und im Sin Rumbo – im wahrsten Sinn des Wortes – aufwuchs, erzählt, wie sie von den großen alten Milongueros wie Pepito Avellaneda und Gerardo Portalea angefeuert wurde: „Mädel, schließ Knie und Fersen, wenn du gehst“, „Heb den Kopf“, „Schrumpf nicht zusammen“. Inspiriert wurde sie dagegen von den alten Milongueras des Sin Rumbo wie ‚La Fillipina’, ‚La negra Margarita’ und ‚La Rusa’, weil sie die Füße setzten wie niemand sonst.

Heute ist es ruhiger geworden im Sin Rumbo. Freitags Milonga, sonst ein Seniorenklub – die Tanzgötter von früher machen sich rar oder es gibt sie nicht mehr. Maria Nieves kommt regelmäßig und setzt sich an ‚ihren’ Platz. Das Publikum von heute ist bodenständiger, 70 % sind Porteños, 30 % Fremde. Die meisten kommen in Gruppen oder als Paare; man kennt sich. Für Damen und Herren ohne Begleitung hat Julio bestimmte Plätze reserviert, wo er ein Auge auf sie werfen kann. Und das, obwohl die Leute hierher zum Tanzen kommen und nicht zum Anmachen, sagt Julio.

Im Sin Rumbo herrscht Herzlichkeit, man darf sich zu Hause fühlen. So will es Julio. Deshalb werden Fremde eigens mit einer Ansage bedacht und beklatscht.  Oft tanzen Paare aus dem Ausland vor, auf eigene Anfrage, versteht sich. Miguel Angel Zotto weiß, warum: „Wenn du nicht im Sin Rumbo getanzt hast, bist du kein Milonguero.“ Wer will so etwas schon auf sich sitzen lassen?